Michael Schindhelm | WAS IST DIE QUALITAET EINER STADT?

Was ist die Qualitaet einer Stadt?

Die Stadt ist eine Marke. Wer London sagt, hat Bilder im Kopf. Von den Olympischen Spielen, der Queen, osteuropaeischen Milliardaeren. Staedte ziehen Kapital und Menschen an, Staedte setzen Trends, entscheiden ueber Lebensstile. Sie wachsen an Bedeutung, waehrend die Laender, zu denen sie gehoeren, an Bedeutung verlieren.
Seit der Wettbewerb um die Ausrichtung von Sport- und Kulturevents oder politischen Gipfeltreffen, um die Niederlassung multinationaler Investoren, um Touristen, Studenten, Steuerfluechtlinge oder die sogenannte kreative Klasse vor keinem Ortseingangsschild mehr halt macht, muessen sich Staedte mit dem Urteil globaler Ratingagenturen auseinander setzen. Ob eine Frau nach Dienstschluss unbelaestigt mit der U-Bahn nach Hause fahren kann, Kinder von Mitarbeitern globaler Unternehmen eine internationale Schule finden, der Auslaender Reizthema im Wohnmilieu ist oder man sich getrost einer Behandlung im lokalen Poliklinikum aussetzen kann: Dies alles sind Standortfaktoren, die ueber die Markenqualitaet einer Stadt entscheiden.

Vor wenigen Tagen hat die weltweit angesehenste Agentur der Branche ihren Bericht fuer 2012 veroeffentlicht. Mercer ist eine amerikanische Firma und kommt – wie schon seit Jahren – zu dem nicht selbstverstaendlichen Schluss, dass Staedte aus Oesterreich, Deutschland und der Schweiz die weltweit hoechste Lebensqualitaet haben. Nach Wien und Zuerich rangieren Muenchen, Frankfurt und Duesseldorf unter den ersten Zehn, Berlin und Hamburg noch unter den ersten Zwanzig. London schafft es nur auf Platz 38, New York auf Platz 44. Mercer bescheinigt deutschen Staedten eine exzellente Infrastruktur, soziale Toleranz und ein breites Angebot an Bildung und Kultur.

Das erfolgreiche Abschneiden von (im wesentlichen west-)deutschen Staedten koennte Anlass zu nationalem Stolz sein. Zum Beispiel beschreiben die urspruenglich als weiche Faktoren bezeichneten Bereiche von Bildung, Kultur oder Gesundheit den Weg, den die Stadt als Plattform der globalen Gesellschaft vom Industrie- zum Dienstleistungszentrum genommen hat. Deutschland haette Mercer zufolge in einigen Staedten den Strukturwandel zur kreativen Gesellschaft bereits vollzogen.

Der Pferdefuss solcher Ratings laesst sich aber nicht retouchieren. Sie versuchen Qualitaet in Zahlen zu messen. Mercer hat ein System von 39 Kriterien zu den unterschiedlichsten Lebensbereichen entwickelt, um es auf die Wirklichkeit von vierhundertzwanzig Staedten weltweit anzuwenden. Es laesst sich vermuten, dass die Auswahl der Kriterien massgeblich ueber das Ergebnis der Analyse mitbestimmt. Selbst wenn man durch immer bessere Bewertungskriterien genauere Resultate erzielt, stellt sich die Frage, welchen Sinn es macht, Staedte wie New York, Duesseldorf und Bagdad miteinander zu vergleichen. Der Charakter einer Stadt ist ja gerade das, was sie unvergleichlich macht. Paris zum Beispiel mag bei Mercer nicht so gut wegkommen. Et alors?

Tatsaechlich hat der globale Staedtewettbewerb dazu beigetragen, dass Staedte einander aehnlicher werden. Das unter dem Begriff Gentrifizierung bekannte Phaenomen der kommerziellen Aufwertung innerstaedtischer Zonen mit internationalem Kapital und der nachfolgenden Nutzung und Besiedlung dieser Zonen durch meist neue Stadtbewohner, die an Integration und Nachbarschaftlichkeit gar nicht interessiert sind, ist gerade in Deutschland zum Feindbild lokaler Initiativen fuer die Erhaltung urbaner Identiaet geworden.

Staedte werden kommerzieller, weil die oeffentliche Hand fuer ihr Wohlergehen nicht alleine aufkommen kann. Der Verkauf etwa von renommierten, urspruenglich freien Kunstprojekten offen stehenden Immobilien in Berlin Mitte an internationale Investoren ist zwar bekaempft und kritisert worden, aber angesichts leerer Staatskassen bleibt einem Liegenschaftsfonds heute keine Alternative.

Die Transformation der Stadt von einem relativ homogenen Gemeinwesen zur urbanen Plattform von hoher Mobilitaet und geringer Integration zwingt auch hierzulande zu einer neuen Interpretation dessen, was eine Stadt lebenswert macht. Weder City-Rankings, die vor allem die Attraktivitaet fuer den globalen Markt im Auge haben, noch die angestammte Doktrin von „unserer Stadt“ mit ihrer historisch gewachsenen Kommunalitaet werden der Wirklichkeit gerecht. Was immer ausgekluegelte Statistiken sagen moegen: Ob Muenchen top ist, entscheiden sowohl die Leute, die in der Maximilianstrasse shoppen, als auch jene, die zwischen Unterfoehring und Obersendling durch den Arbeitsalltag pendeln.

Erschienen im Magazin „Flair“, 2012. 

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