Michael Schindhelm | KOLUMNE 4 – GAZETA.RU

Kolumne 4 – gazeta.ru

Im Juni vor zehn Jahren sah ich zwei Mongolen dabei zu, wie sie ein Schaf schlachteten. Sie hatten das Tier rund um die Vorderlaeufe rasiert. Der eine nahm es zaertlich in seine Arme und hob es leicht an, der andere oeffnete mit einem tiefen, ruckartigen Schnitt, als oeffne er ungeduldig einen hakenden Reissverschluss, die Brust, griff ins das organische Dunkel und drueckte die Hauptschlagader ab. Das Schaf blies sachte die Nuestern, legte den Kopf in den Nacken, blinzelte verzueckt den Mongolen ueber sich an und verschied, ohne einen Laut von sich gegeben zu haben.

Ich beobachtete das kurze Schauspiel aus zwei Metern Entfernung. Hinter der Gruppe breitete sich die endlose Steppe der Gobi aus, nur links begrenzt von einer von Thymian ueberwuchterten Duene. So haben sie das schon zu Dschengis Khans Zeiten gemacht, dachte ich. Da drehte sich der mit dem jetzt blutigen Messer zu mir um. Sein gelbes, vorstehendes Gebiss leuchtete in der Abendsonne. Die mahagonifarbene Lederhaut seines Gesichts spannte sich nach allen Seiten, bis ein Laecheln entstand. Ich klopfte ihm vorsorglich auf die Schulter. Molodzy, sagte ich. Er nickte. Da, molodzy. Der Mann aus der Gobi und ich sprachen Russisch miteinander. Er war erst vor ein paar Jahren in die Wueste gegangen und hatte einst in Ulan Baator in der Schule die Sprache Lenins gelernt. So sagte er es selbst: die Sprache Lenins. Der Nomade aus der archaischen Mongolei.

In den letzten zwanzig Jahren haben mir meine Russischkenntnisse immer wieder unvermutet weitergeholfen. Als ich in Beijing einen Film ueber die Entstehung des Olympiastadiums drehte und mich mit dem Kuenstler Ai Weiwei anfreundete, sahen wir uns oft zum Abendessen in einer russigen Kaschemme am dritten Ring, die frueher ein Samizdat-Treff gewesen war. Meist sassen wir um einen klapprigen Tisch mit einem kreisrunden, verkohlten Loch in der Mitte, aus dem der Brenner fuer den Hotpot ragte. Wenn in der Filmcrew zuviel Englisch gesprochen wurde, wechselten Weiwei und ich oft ins Russische, um ungestoert reden zu koennen. Er hatte es kurz nach der Kulturrevolution in der Filmschule in Beijing gelernt, nicht viel, aber immer noch gut genug, um sich zum Spass verstaendlich zu machen. Diese Geste zwischen uns hatte jedoch eine besondere Bedeutung: Wir, die wir Russisch sprachen, kamen aus einer anderen Welt, als die Auslaender, um uns herum.

Vor ungefaehr vier Jahren machte ich in einem Privathaus im Londoner Kensington die Begegnung mit einem Vertrauten des Koenigs von Oman. Man hatte vor, in Muscat ein Opernhaus zu bauen und erwog, mich als Berater hinzuzuziehen. Die Begegnung fand in einem Kaminzimmer statt und war an sich exotisch genug. Jedoch hatte der Vertraute des Koenigs den Bauminister mitgebracht. Wie sich herausstellte, hatte der Mann fast zur gleichen Zeit an der MGU Ingenieurwesen studiert wie ich in Voronesch Quantenchemie. Wir schmunzelten, guckten in den Kamin und warfen uns russische Brocken zu wie Holzscheite, um das seltsame Gespraech ueber eine Oper am Indischen Ozean in Gang zu halten.

Die russische Sprache ist noch vor gar nicht so langer Zeit auf fast allen Kontinenten von Leuten gesprochen worden, die irgendwie zu den Eliten ihrer Laender gehoerten. Zehntausende Asiaten, Latainamerikaner, Afrikaner und Europaeer aus Ost und West studierten auf den Leninbergen oder in Machatschkala: Jura, Diplomatie, aber auch „Anna Karenina“ und Atomphysik. Zeichnete man den Weg nach, den die Alumni der sowjetischen Hochschulen durch die postkolonialen und Kalten-Kriegs-Welten gegangen sind, man koennte sich kaum ein dichteres globales Netzwerk vorstellen. Was ist wohl aus ihm geworden?

Ich habe mich als als nicht besonders engagierter Quantenchemiker erwiesen, habe aber immerhin meine Sympathie fuer die russiche Sprache bis zu einem gewissen Grade aufrecht erhalten und fuer das deutsche Theater Tschechow und Gogol uebersetzt. Zugegeben, ich beherrsche sie nicht mehr sehr gut, aber mir scheint, es wird in Russland immer noch viel gelesen und geschrieben, und die Russen reden gerne und geniessen ihre Muttersprache beim Reden ungefaer so, wie der Franzose einen 82er Pomerol odeer der Inder eine Partie Cricket. Und auch wenn es nicht immer wie Puschkin oder Mandelstam klingt, ich hoere gerne zu.

Unter den meist gesprochenen Sprachen der Welt ist Russisch laut offiziellen Angaben heute die Nummer Acht mit knapp 290 Mio Menschen, die es als Muttersprache verwenden. Natuerlich ist das weniger als vor zwanzig oder dreissig Jahren, wo man ueberall im kommunistischen Weltsystem noch Russisch lernte. Die geopolitische Schrumpfung ist aber vielleicht nicht einmal das eigentliche Problem. Das liegt vielleicht eher darin, dass Russland nach wie vor fast ausschliesslich Russisch spricht. Zwar haben globale Business-Termini wie ofiss, kontent, taunchaus oder eben bisnes Einzug gehalten, aber nach meinem Eindruck redet auch der durchschnittliche menedscher kein valables Englisch. Moskau ist zwar die groesste Stadt Europas, aber seine oeffentliche Kommunikation kennt so gut wie keine andere Sprache als Russisch, und wer das kyrillische Alphabet nicht kennt, kommt sich hier vor wie ein ausgesetzter Saeugling.

Die Globalisierung hat gezeigt, dass sich vor allem Laender, die grosse, kulturell homogene Bevoelkerungen haben und somit mehr „unter sich“ bleiben, das globale Englisch oder Globisch weniger und spaeter adaptieren. Was immer man von dieser seltsamen und trivialisierten Version der Sprache Shakespeares und Franklins halten mag, es ist doch das wesentliche Kommunikationsinstrument im weltweiten Dialog. Und im weltweiten Wettbewerb. Selbst in angelsaechsischen Kreisen gilt heute als unumstritten, die Kombination von Englisch mit einer anderen Muttersprache sei die beste Voraussetzung fuer Individuen aber auch Gesellschaften, sich den Herausforderungen in einer Welt grenzenloser Kommunikation zu stellen. (Es sei hier dahingestellt, ob Englisch einst tatsaechlich durch das Chinesische ergaenzt werden wird.)

Wichtiger scheint mir herauszufinden, ob Russland das Modell der zwei Sprachen mit der jetzt heranwachsenden Generation auch umsetzen wird. Die Zeiten eines russischsprechenden Weltsystems sind aller Voraussicht nach bis auf Weiteres vorbei. Russland muss sicherlich seine Sprache pflegen (und vielleicht weitere Kreationen wie Kottedsch etc zu vermeiden suchen), und wird auch in Zukunft hoffentlich mit sich selbst ein makelloses Russisch sprechen.

Dem auslaendischen Beobachter scheint jedoch, dieses Land habe auch den Menschen draussen eine Menge zu sagen. Nach wie vor gibt es in Moskau und den Provinzen grossartige Intellektuelle, Forscher, Kuenstler und Unterrnehmer. Das gerade zu beobachtende soziale Experiment einer neuen demokratischen Artikulation und einer Neuverhandlung der Beziehung zwischen Regieren und Bevoelkerung ist von Bedeutung fuer gesellschaftliche Entwicklungen von Westeuropa bis China. Staedte wie Moskau haben ein enormes Potential fuer den internationalen Tourismus und entwickeln Formen von Metropolitanitaet, die fuer die globale Community attraktiv und wichtig sind. Deshalb muss Russland Globisch sprechen. Man stelle sich vor: „Govorit Moskva“ (in English), und die Welt hoert zu…

Erschienen auf gazeta.ru.

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