Michael Schindhelm | KOLUMNE 6 – GAZETA.RU

Kolumne 6 – gazeta.ru

Die Alten Aegypter haben es schon getan, die Roemer, die Wikinger und die Maya. Nun also auch die Moskauer Stadtbehoerden. Einigen Zeitungsmeldungen zufolge soll irgendwo im Zentrum der Stadt, vielleicht an der Taganka oder am Puschkin-Platz, ein Graffiti-Panorama von ca 200 Quadratmeter Flaeche entstehen, das den Sieg von 1812 ueber Napoleon im Vaterlaendischen Krieg darstellt. Der Praefekt des Zentralen Stadtteils (ZAO) hat angekuendigt, man arbeite zwar noch an einem Auftrag (techniceskoye zadanye), aber Kutuzov und Napoleon gehoerten ins Bild. Puenktlich zum Jubilaeum, am 7. September, soll das Graffiti-Panorama fertig sein. Man rechne damit, dass bis zu zehn Mannschaften (komanda) von Kuenstlern am Projekt beteiligt sein werden.

Die Absicht der Moskauer Behoerde ist sicherlich loeblich. Obwohl seit Jahrtausenden in vielen Kulturen bekannt, gilt das Graffito als eine relativ neue Kunstform. Im Grunde wird es auch im Westen erst seit den Achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts als solche anerkannt. Die Moskauer Kuenstler werden sicherlich der jungen Generation angehoeren, deren Blick auf ein historisches Ereignis wie den Vaterlaendischen Krieg einen Platz im oeffentlichen Raum verdient.

Zugleich loest die Nachricht ueber den Plan des Graffiti-Panoramas eine kleine Ueberraschung aus. Nach meinem Eindruck hat sich diese Kunst in Moskau noch nicht derart etabliert, dass man damit gerechnet haette, oeffentliche Behoerden koennten sich ihrer bedienen, um bedeutende politische Anlaesse zu begehen.

Denn Graffiti-Art gilt nach wie vor weltweit in erster Linie als Protestkunst, und als solche hat sie sich – abgesehen vom stupiden Vandalismus, der vielen oeffentlichen und privaten Eigentuemern ueberall auf der Welt zu schaffen macht – auch an Waenden, Plaetzen und auf Strassen Moskaus gezeigt. Graffitiforscher gehen von der Annahme aus, dass Graffiti eine Menetekel-Funktion erfüllen und als politisches Thermometer angesehen werden können. Dies ist besonders in politisch unsicheren Zeiten von Bedeutung. Hier können Graffiti ein Indikator für gesellschaftliche Entwicklungen sein, je nachdem ob sie aufgrund ihres Inhaltes geduldet oder konsequent verfolgt werden.

Die Moskauer Behoerden stehen sicherlich nicht unter dem Verdacht, mit Graffiti-Kunst politisch brisante Inhalte in den Umlauf des oeffentlichen Raumes bringen zu wollen. Es ist deshalb nicht davon auszugehen, dass das Graffiti-Panorama ueber den Vaterlaendischen Krieg Darstellungen enthalten wird, die dem Auftraggeber nicht genehm sind, z.B. eine Anti-Kriegs-Aussage oder einen kritischen Verweis auf militaerische Aktivitaeten Russlands aus der juengsten Geschichte. Die „Kuenstlermannschaften“, die fuer den ZAO das Kriegspanorama entwerfen, arbeiten also nach den Richtlinien ihres staatlichen Auftraggebers und nicht nach den Prinzipien der Kunstfreiheit.

Gerade das Graffito gilt aber als ein Massstab dafuer, wie freiheitlich sich die Kunst in einem Lande aeussern kann.

Das hat auch der Westen in einem langen und muehsamen Prozess lernen muessen. Die naehere Zeitgeschichte der Kunst ist in Sachen Street Art immer auch eine Geschichte des Verbots gewesen. Bis heute weiss man wenig ueber die Aktivisten der ersten Stunde, sie haben die Anonymitaet gesucht, um sich der Strafverfolgung zu entziehen. Ueber den vielleicht ersten echten Graffiti-Kuenstler der Moderne, den Franzosen Gérard Zlotykamien, weiss die breite Oeffentlichkeit wenig.

Nicht zufaellig begann die Graffiti-Kunst in den USA der dreissiger Jahre des vorigen Jahrhundert als Ganggraffiti. Das Peace-Zeichen der ausserparlamentarischen Opposition ist Symbol nicht nur der Antikriegsbewegegung geworden, sondern gilt heute als das universelle Symbol fuer den transpersonalen Protest.

Wie schwer sich auch westliche Laender mit der Graffiti-Kunst getan haben, laesst sich am Schicksal des “Sprayers von Zuerich” Harald Naegeli demonstrieren. Naegeli hatte nachts an Zuercher Hauswaende Strichmaennchen gezeichnet, bis er 1981 nach langen, erfolglosen Fahndungen erwischt, zu einer hohen Geldstrafe und neun Monaten Haft verurteilt wurde.

Aber Naegeli floh vor der Haft nach Deutschland und entzog sich einige Zeit einem internationalen Haftbefehl, bis er doch gefasst wurde. Selbst die Interventionen des ehemaligen Bundeskanzlers Willy Brandt und des Kuenstlers Joseph Beuys blieben erfolglos. Naegeli sass seine Strafe schliesslich ab. Bald aber wurden seine Arbeiten kopiert, in Galerien ausgestellt und ueberall verbreitet. Naegeli wurde zu einem unsichtbaren Star, dessen Kunst Nachahmer fand. 1995 stufte die kantonale Behoerde von Zuerich einige erhalten gebliebenen Graffitis Naegelis als erhaltenswert ein. In den letzten Jahren sind die Strichmaennchen von privaten und oeffentlichen Eigentuemern konserviert worden. Aus Naegeli dem “Schmierer” ist Naegeli der Kuenstler geworden.

Die Kunst der Moderne ist in den seltensten Faellen von Anfang an oeffentlich und politisch akzeptiert worden. Obwohl sowohl die Kunst, als auch der oeffentliche Raum ueberall auf der Welt in den vergangenen vierzig Jahren einer wachsenden Kommerzialisierung ausgesetzt sind, hat ihre Verbindung – Kunst im oeffentlichen Raum – nichts an ihrem kommunikativen Potential eingebuesst. Die Moskauer Behoerden, die jetzt ein Graffiti-Panorama in Auftrag geben werden, sind sich dieses Potentials offenbar bewusst. Sie wollen es nutzen, um mit einer neuen Sprache – der des Graffito – einen grossen Feiertag zu begehen.

Das ist legitim. Ebenso legitim ist aber, die Frage nach der Kunstfreiheit im oeffentlichen Raum zu stellen. Die Graffitistroemungen der letzten dreissig Jahre haben im Westen oft den Weg vom Protest zur Anerkennung genommen. Was einst verboten war, wurde spaeter Mainstream. Das ist aber nur in einer Gesellschaft moeglich, in der die Spielregeln fuer die Kunstfreiheit (samt ihren Grenzen) einerseits definiert sind und andererseits trotzdem immer wieder unter dem Einfluss neuer Trends und moeglicherweise Provokationen ueberprueft werden. Keine Grenze darf fuer immer bestehen. Was tolleriert werden kann und was nicht, muss von Zeit zu Zeit und zu oftmals oeffentlichen Aufsehen erregendem Anlass neu ausgehandelt werden.

Genau das scheint mir der derzeitige Stand der Dinge in Moskau und in Russland zu sein: bestehende Grenzen werden verschoben und neu ausgehandelt. So will es die Dialiektik von Protest und Akzeptanz. Ein Graffiti-Panorama mit Kutuzov und Napoleon ist keine schlechte Idee. Aber nur in einem Rahmen, der die Kunstfreiheit anderer Graffiti-Kunst einschliesst.

Der Leiter der Kulturabteilung Moskaus, Sergej Kapkov, denkt ueber neue Flaechen fuer die Street Art nach und will Pilotprojekte starten. Das hoert sich gut an. Er will aber auch einen Beirat einsetzen, der die Projekte pruefen soll. Laut Kapkov nach aesthetischen Gesichtspunkten. Man darf gespannt sein zu sehen, was gefaellt und was nicht.

Erschienen auf gazeta.ru.

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