Michael Schindhelm | DIE GETEILTE KULTUR ODER WAS IST KULTURELLE DIFFERENZ IN DEUTSCHLAND?

Die geteilte Kultur oder Was ist kulturelle Differenz in Deutschland?

Kulturschaffende hatten sich mit der deutschen Einheit besonders schwer getan. Vielleicht ist dieses Biotop – entgegen seinen eigenen Behauptungen – besonders konservativ, und zwar weil sich Kuenstler, vor allem in Deutschland, ueberdurchschnittlich viel mit ihrer Herkunft beschaeftigen oder weil der Kontext des “raunenden Imperfekts” einen Menschen der Frivolitaet der Gegenwart gegenueber weniger empfaenglich macht.

Der Beginn der Wiedervereinigung sah zwar wie ein koerperlicher Vereinigungsakt aus: die Ostdeutschen als die aktive, werbende und in die fremde Welt jenseits der Mauer eindringende und die Westdeutschen als die eher passive, sich willig oeffnende Seite und sich irgendwie zwischen Ironie und Pathos geschmeichelt fuehlend angesichts der frohlockenden Avancen, die ihnen da gemacht wurden.

Aber nach der Romanze kam der Alltag des Aufbaus Ost, und das Blatt sollte sich wenden. Jetzt drang vor allem der Westen in die ehemalige DDR ein: mit politischer, wirtschaftlicher, medialer und logistischer Unterstuetzung und der Mission, aus diesem neuen Territorium innerhalb des groesser gewordenen eigenen Landes moeglichst rasch eine nicht wiederzuerkennende bluehende Landschaft Ostdeutschland zu machen, die dem westlichen Teil der BRD in nichts nachstehen wuerde. Die Mission wurde in erster Linie ermoeglicht durch freie Wahlen, einen formellen politischen Anschluss, die Uebernahme des Grundgesetzes, die Einfuehrung einer neuen Waehrung und der sozialen Marktwirtschaft, Milliardentransfers und dem Einsatz von Tausenden von Managern, Ingenieuren und Beamten aus dem Kernland der alten BRD.

Die DDR wurde Ziel einer fuer deutsch-deutsche Verhaeltnisse beispiellosen Aktion der Entwicklungszusammenarbeit. Und wie das bei solchen Aktionen nicht ausbleibt, gab es auch diesmal einen Geber und einen Nehmer, und waehrend das Geben moeglicherweise (zumindest in den Anfangsjahren) eventuell tatsaechlich selig gemacht hat (der Westen gab sich bekanntlich auch eine ganze Menge zurueck in Form von Markterweiterung, Steuervorteilen, Jobperspektiven etc), sah sich der Nehmer mehr und mehr in der Rolle des Almosenempfaengers, dessen Land von vorwitzigen Treuhaendern, die er nicht gerufen zu haben meinte, ausgepluendert oder zumindest ihnen entfremdet wurde.

Augenhoehe war nicht das Niveau der Kommunikation. Im Osten wuchs die Enttaeuschung ueber die vermeintlich “ungerechte” Freiheit des Kapitalismus, im Westen regierte die Can-Do-Haltung Kohlscher Realpolitik, die mit rhetorischem Enthusiasmus sich selbst und die mit dem Aufbau Beglueckten darueber hinwegzutaeuschen trachtete, wie tief die wirtschaftliche Misere der letzten DDR-Jahre nachwirkte und wie gross das Risiko eines oekonomischen Anschlusses an die Marktwirtschaft war. Aus der Perspektive vieler Ostdeutschen war aus der Vereinigung eine Vereinnahmung geworden.

Der Mangel an Augenhoehe zwischen Ost und West war das entscheidende Ferment fuer die Genetik der einheitsdeutschen Kulturlandschaft, ihres Betriebs und der Haltung ihrer Akteure. Die gegenueber politischer Inszenierung skeptische, bezueglich eigener Identitaet besonders empfindliche und sowieso stets um Widerspruch und “geistige Unabhaengigkeit” bemuehte Klasse der Intellektuellen und Kulturschaffenden uebernahm mit erstaunlich rascher Auffassungsgabe die Rolle des Spielverderbers und erklaerte gegenueber den “Wir sind ein Volk”-Rufern: Wir machen nicht mit.

Die Protagonisten dieser Klasse gehoerten 1989 auf beiden Seiten der Kriegs- und Nachkriegsgeneration an und verdankten ihre politische und intellektuelle Konstitution in der Regel den Grossen Erzaehlungen des Kalten Krieges. Insofern konnte es nicht verwundern, dass auf beiden Seiten Distinktionsrituale dominierten, und zwar die spiegelsymmetrische Matrix von Links und Rechts sowie Ost und West: Ein Teil der West-Intellektuellen hielt die DDR im Geiste Springers fuer einen scheinexistenten Unrechtsstaat, ein Teil der Ost-Intellektuellen die BRD fuer den imperialistischen Klassenfeind, ein anderer Teil der West-Intellektuellen hatte sich im flamboyanten Ambiente der Achtundsechziger die DDR schoen geguckt und war nun ueber ihren Untergang sauer, waehrend der privilegiertere Teil der Ost-Eliten (Heiner Mueller, Stephan Heym etc.) schon seit langem zwischen den Welten zu wandern gelernt und oft beiden Seiten Pro und Contra abgewonnen und sich ausserdem in der DDR maessig oppositionell verhalten hatte und nun mit sueffigem Sarkasmus ueber die Infantilitaet des Vereinigungstheaters herzog.

Vor diesem Hintergrund laesst sich behaupten, dass sich Kultur Ost und Kultur West im ersten Jahrzehnt nach der politischen Wende in der DDR mit zwei relevanten historischen Hinterlassenschaften auseinanderzusetzen hatten: dem Erbe der deutschen Teilung und dem der gemeinsamen Geschichte.

Das Erbe der Teilung wurde zunaechst von den alten Kaempen beider Fronten des Kalten Krieges verwaltet, wobei die Protagonisten aus dem Westen (von August Everding bis Fritz Raddatz) leichtes Spiel hatten, die Uebel des anderen Systems in den sozialistisch-realistischen Machwerken prominenter DDR-Staatskuenstler (Hermann Kant, Ekkehard Schall etc) aufzuspueren.

Zugleich formierte sich der deutsch-deutsche Kulturbetrieb wie das gesamte Nachwende-Deutschland im Kontext der Proklamationen zweier Propheten der Einheit; Willy Brandt: Jetzt waechst zusammen, was zusammen gehoert (gleichgueltig, ob das Zitat wirklich von ihm stammt); Helmut Kohl: Durch eine gemeinsame Anstrengung wird es uns gelingen, Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt, Brandenburg, Sachsen und Thüringen schon bald wieder in blühende Landschaften zu verwandeln, in denen es sich zu leben und zu arbeiten lohnt.

Zunaechst hatte sich unter den Juengeren an der Spitze der (westdeutschen) SPD, bei Lafontaine und Schroeder zum Beispiel, Widerspruch gegen eine rasche deutsche Wiedervereinigung geregt. Hans Jochen Vogel warf ihnen vor, sie zoegen vorgeblich in Betracht, “die Bürgerinnen und Bürger der DDR künftig nicht mehr als Deutsche im Sinne des Grundgesetzes zu behandeln. Nach Öffnung der Mauer könne ihnen der Zugriff auf die sozialen Sicherungssysteme der Bundesrepublik nicht mehr offengehalten werden“. Guenter Grass repraesentierte jenen westdeutschen Teil der Intellektuellen, die ebenfalls vor einer Wiedervereinigung warnten und die Buegerinnen und Bueger der DDR zum Aufbau einer alternativen Gesellschaft zu ermuntern suchten und darin bei Teilen der Buergerrechtsbewegung Unterstuetzung fanden.

Die Geschichte sollte zeigen, dass weder bluehende Landschaften, noch ein gemeinsames Wachstum rasch zu haben sein sollten und eine Alternative zur Wiedervereinigung erst recht unrealistisch war. Otto Schily hob zur Erklaerung des Motivs fuer die hyperventilierte Sehnsucht der Ostdeutschen nach der gemeinsamen BRD eine Banane in die Kamera. Die Banane, jahrzehntelang Zeichen fuer den Wohlstand des erfolgreichen und fuer den Mangel des kommunistischen Deutschlands, wurde jetzt erst recht zum Distinktionssymbol zwischen Ost und West. Ob er es wollte oder nicht, Schily hatte die Rhetorik von Kolonialherren bedient. Seine Banane (egal, ob er selbst auch) machte gegenueber den eindringenden Ostdeutschen deutlich: Wenn es nach uns ginge, gehoertet ihr nicht her. Wir brauchen keine Wiedervereinigung, bleibt wo ihr seid, dumpfe Konsumenten gibt es hier schon zur Genuege. Wir bedauern, dass die DDR untergegangen ist, denn sie war noch immer ein wenn auch verblassendes Zeichen fuer eine politische Alternative zum Kapitalismus. Nun muessen wir erst mal Trauerarbeit leisten.

Zum Festakt der deutschen Einheit, den im Herbst 1990 sich und den deutschen Theatern, Opern und Orchestern der Deutsche Buehnenverein goennte, sprach Hilmar Hoffmann davon, dass, wo alles nach Wiedervereinigung rufe, die Kultur wohl der Ort sei, an dem die Unterschiede beider Teile artikuliert werden sollten. Der Fairness halber sei vermerkt, dass Hoffmann nicht auf Bananen verwies und eigentlich einen Kern fuer die moegliche Funktion der Kultur im allgemeinen traf.

Immerhin stuetzte er aber damit auch das Unbehagen linksliberaler Kreise im Westen an der raschen deutschen Einheit und rief den neuen (und ja eigentlich auch alten) Landsleuten zu: Ihr seid anders, besinnt euch darauf! Zeigt uns euer Anderssein. Hoffmanns Plaedoyer laesst sich auf zweierlei Art interpretieren. Sie, die Kultur, sollte die vorlaeufige Moeglichkeit zweier unterschiedlicher Identitaeten offenhalten. Man kann davon ausgehen, dass er selbst das so verstanden wissen wollte und damit die Haltung wohlmeinender westdeutscher Intellektueller artikulierte.

Aber Wohlmeinen spielte keine grosse Rolle in diesen aufregenden Jahren. Es sollte sich bald (und fuer bis heute unabsehbar lange Zeit) zeigen, dass der Westen die Deutungshoheit ueber die politische (und damit auch kulturpolitische) Lage im Lande einforderte, so nach dem Motto: Wir haben den besseren Ueberblick, kommen aus der reiferen Gesellschaft, und ausserdem waren wir schon immer hier, und ihr seid neu. Oft genug haben Ostdeutsche beschrieben, sie fuehlten sich von ihren Landsleuten aus dem Westen wie Kinder behandelt.

Viel einzufordern war uebrigens gar nicht, weil die vereinzelten Stimmen ehemaliger DDR-Intellektueller sowieso bald keine aktive mediale Verstaerkung mehr bekamen. Unwillkuerlich ergab sich eine Teilung innerdeutscher Oeffentlichkeitsarbeit, dergestalt, dass in der Regel der Westen sprach und der Ost zuhoerte, bis er aufgerufen wurde, sich zu Wort zu melden.

Die Forderung nach einer Kultur der Unterscheidung klang in ostdeutschen Ohren wie der nach Selektion, zumal die Zugehoerigkeit zum einstigen „Regime“ erst Recht nach dem Ende der DDR nicht unbedingt schmeichelhaft genannt werden konnte. Wer sollte sich noch unbeschwert bekennen zu etwas, das in rasantem Tempo der Entwertung und Laecherlichkeit preisgegeben war?

Fuer viele Ostdeutsche musste Hoffmanns Aufruf klingen wie eine Ansage von „drueben“, sich auf jener Seite aufzustellen und nun mal ordentlich in DDR-Pose zu gehen. Willentlich oder nicht spielte Hoffmann mit seinem Begriff von der Rolle der Kultur im vereinten Deutschland nicht nur den Achtundsechziger-Skeptikern im Westen, sondern auch den alten DDR-Kadern zu, denen es ja im Sinne des Marxismus und Leninismus vor allem darum gegangen war, im realexistierenden Sozialismus ein neues Menschenbild zu schaffen, also eine eigenstaendige kulturelle DDR-Identitaet. Und die sollten die lieben Kulturschaffenden aus der Ex-DDR nun auch bitte schoen darstellen.

Die spiegelsymmetrischen Selbstinszenierungen und Auseinandersetzungen zwischen Ost und West im Kulturbetrieb der Neunzigerjahre sind zunaechst von den aelteren Generationen und in meist unversoehnlicher und unbelehrbarer Weise gefuehrt worden. Es gab die Sieger-und-Besiegten-Revue, den Streit um das Vorrecht, das groessere Opfer erbracht zu haben, oder um jenes, die bessere Gesellschaft zu vertreten, und es gab die sachgerechte und die weniger sachgerechte Analyse der Geschichte zur moralischen und damit auch kulturellen Qualifikation ostdeutscher Kulturschaffender.

Die Aufarbeitung von Stasi-Mitarbeit hat unbestritten auch den Kulturbetrieb des neuen Deutschlands ueber mindestens ein Jahrzehnt wesentlich gepraegt. Es mag an anderer Stelle entschieden werden, ob die an sich notwendige und richtige Einsicht in und die Verwendung von Stasi-Unterlagen zur Beurteilung von Mitarbeitern oeffentlicher Einrichtungen jeweils zu einem fairen Ergebnis gefuehrt hat. Zweifelsohne leitete sie eine rasche Entfernung des groessten Teils der ehemaligen DDR-Eliten an Theatern, Museen und Universitaeten ein und muendete in einen umfassenden Austausch von Ost durch West in fast allen Bereichen von Management, hoeherem Angestellten- und Beamtenstand.

Fuer die meisten DDR-Kader war aus der Hoffmannschen Formel des Andersseins das Stigma des unredlichen Andersseins geworden. Kultur als Mittel zur Selektion und zur Manifestation von (neuer) Machtelite. Interessanterweise gerierte sich der im Grunde hochaktive westliche Kultur- und Medienbetrieb als der unbeteiligte Dritte in einer angeblich ausschliesslich unter Ostdeutschen auszutragenden Interpretation von historischem Recht. Nach zehn Jahren (oder mehr) Aufarbeitung von DDR-Unrecht im Kulturbereich sassen nicht unbedingt die ostdeutschen, vor der Geschichte Gerechtfertigten an den Schaltstellen des neudeutschen Kulturbetriebs, sondern die „unbeteilgten“ Dritten aus der alten BRD. Das Territorium der deutschen Kulturlandschaft war abgesteckt. Der Westen hatte sich ausgebreitet, der Osten uebte sich allmaehlich in der Rolle des „Anderen“.

Das Hoffmannsche Postulat der kulturellen Unterschiede kennzeichnete eine allmaehliche Reservatisierung. Sie, die „Unterschiede“, definierten, womit sich ostdeutsche Kulturschaffende in erster Linie zu beschaeftigen haetten. Naemlich mit sich selbst und ihrer Geschichte. Die meisten von ihnen hielten sich an diese ungeschriebene Vorgabe. Halten sich bis heute.

Jede Generation sucht ihren Gegenstand, und eine Generation, die Zeitzeugin einer einschneidenden geschichtlichen Wende ist, wird sich automatisch auch diese zum Gegenstand waehlen. Sie hat im Grunde keine Wahl. Kein Zweifel, dass die Tiefenwirkung der nationalsozialistischen Erfahrung auch bei Kuenstlern fortwirkt, die diese Zeit gar nicht mehr selbstverantwortlich erlebt haben.

Die Geschichte der DDR ist jedoch von leichterem Gewicht, so menschenverachtend es in ihr zuweilen auch zugegangen ist. Vor allem juengere Generationen, die im Datum des 9.Novembers 1989 die Chance fuer einen biografischen Neubeginn gesehen haben, dient die DDR nicht mehr als ausschliesslicher Stoff kuenstlerischer Arbeit. Die immer noch geltende Forderung etwa nach dem ultimativen Wenderoman atmet jedoch den Geist der Hoffmannschen Kultur der Unterscheidung. Es ist ein bisschen wie beim Examen. Sobald Leute wie Ingo Schulze oder Uwe Tellkamp ein Buch veroeffentlichen, eroertert das (nach wie vor im Kern westdeutsche) Feuilleton, ob die Aufnahmebedingungen fuer den Kanon gesamtdeutscher Literatur durch Erfuellung einer DDR-Aufarbeits-Pflicht gegeben sind. Irgendwie herrscht Unzufriedenheit im Betrieb, als haetten die Ostdeutschen ihre Hausaufgaben nicht gruendlich erledigt, haetten immer noch kein episches DDR-Panorama hingekriegt und richteten sich offenkundig da ein, wo sie schon vor der Wende waren: in der Nische.

Es ist die mittlere Generation, Menschen, die heute in ihren Vierzigern oder Fuenfzigern sind, die die Kulturszene im vereinten Deutschland 2010 bestimmen muesste. Schliesslich haben sie zwanzig Jahre Zeit gehabt, ihren Weg in die Mitte des Betriebs zu machen. Irgendwie ist ihnen das wohl auch gelungen, aber aus Richtung Westen hat man juengst haeufiger den Vowurf vernommen, Deutschland sei mit der deutschen Einheit spiessiger und langweiliger geworden, und damit meinten Vertreter dieser Generation vermutlich besonders sich selbst. Als Auslands(ost)deutscher moechte man diese Diagnose gerne teilen, auch wenn man die alte BRD nicht erlebt hat.

Die Deutschen um die Fuenfzig sind ein seltsames Voelkchen. Kinder des Kalten Krieges, den sie weder gefuehrt noch beendet haben, sind sie in politisch antagonistischen Systemen aufgewachsen. Was sie vereint, ist die Trennung durch die deutsche Teilung. Ihre Eltern haben noch das gemeinsame Kriegs- und Nachkriegsdeutschland erlebt, ihre Nachkommen sind Kinder des neuen Deutschlands. Diese Generation hat wohl nach wie vor ein Recht, zwischen Ost und West zu unterscheiden, denn eine gesamtdeutsche Identitaet ist ihr nicht gelungen.

Der westliche Teil dieser Generation hat sich irgendwann einmal als die Achtundsiebzigergeneration bezeichnet (u. a. Matthias Polyticki). Diese Selbstdefinition, wohl als Abgrenzung gegen die Achtundsechziger gemeint, macht gerade das Dilemma deutlich.

Und dieses Dilemma stellt sich einem Ausstenstehenden von heute etwa so dar: Als die heute Fuenfzigjaehrigen die Reifepruefung abgelegt hatten und nach gesellschaftsevolutionaeren Gesetzen in die Fussstapfen der Aufruehrergeneration vor ihnen haetten treten sollen, war aus dem Wirtschaftswunderdeutschland eine souveraene demokratische Gesellschaft geworden, die von sich meinte, sie haette so weit als moeglich ueber die Vergangenheit Gericht gehalten. Die Fussstapfen waren im Andenken der Siege gegen Altnazis und das miefige Establishment der fruehen BRD petrifiziert. Der Protest von 1968 hatte sukzessive nicht nur die Taetervaeter entmachtet, sondern auch die Generation der Taetersoehne an die Macht gebracht. Der Marsch durch die Institutionen war weit fortgeschritten, und in seinem Zuge hatten sich Achtundsechziger auch zur Entscheidungsinstanz im Kulturbetrieb erhoben. Der Furor ihres Protests war einer zaehen Hartnaeckigkeit im Festhalten an der eigenen Herrlichkeit gewichen. (Das wenn auch inzwischen eher absurd wirkende finale Beispiel fuer die Herrlichkeit gibt Claus Peymann ab.) Fuer die Nachwachsenden war da nicht viel Spielraum vorgesehen. Sie waren auf lange Sicht zum Zuschauen, Kommentieren und Assistieren der Vorgaenger verurteilt.

Unter diesen Umstaenden liess sich auch keine uebergreifende Idee fuer die eigene Identitaet formulieren. Als Generation blieben sie Abhaengige, eben Achtundsiebziger. Als Reaktion auf diese Erfahrung demonstrieren die heute Vierzig- und Fuenfzigjaehrigen aus dem Westen eine grosse Unlust an jeder (kultur)politischen Verbindung, an Cliquenbildung und Machtspielen, Aktivitaeten also, in denen ihre Vorgaenger glaenzend waren (und sind). Kein Wunder, dass der franzoesische Schriftsteller Michel Houellebecq fuer Viele unter ihnen moralische Instanz wurde Die sozialen Umstaende seit der spaeten alten Bundesrepublik haben aus ihnen Elementarteilchen gemacht.

Die Nicht-Zugehoerigkeit zu einem groesseren Generationszusammenhang teilen ihre Generationsgenossen aus der ehemaligen DDR, wenn auch aus anderen Gruenden. Sie sind in eine DDR hineingewachsen, in der Luege und zunaechst moralischer, spaeter wirtschaftlicher Verfall nicht mehr zu uebersehen waren. Oft hatte das Westfernsehen seit ihrer Kindheit das Seine dazu beigetragen, der Wirklichkeit der angeblich real existierenden sozialistischen Gesellschaft zu misstrauen und sich in einer Parallelwelt einzurichten, die Protest und Nische zugleich war und in der die BRD als ein immerhin virtuell erreichbares Paradies alle Behauptung einer Ueberlegenheit der sozialistischen Gesellschaft der Laecherlichkeit aussetzte. Der Zauber des Westens, in den Osten eindringend ueber alle Kanaele, die der Kalte Krieg nicht schliessen konnte, stattete die Phantasie dieser Generation mit einer Vorstellung von einer besseren Welt aus, sodass Viele seit den fruehen Achtzigern den Antrag an die ungeliebte Regierung stellten, in den Westen gehen zu duerfen. Dieser Zauber sollte nicht lange vorhalten, nachdem aus der virtuellen eine reale Bundesrepublik geworden war.

Das Hoffmanne Postulat vom Andersseinsollen traf vor allem die Ostdeutschen aus dieser Generation unerwartet, hatte man doch erwartet, zum ersten Mal irgendwo dazugehoeren zu duerfen. Vermutlich hat sich diese Verwirrung niemals gelegt. Die heute mittlere Generation Deutschlands ist eine Generation der Elementarteilchen geworden. Im Kulturbetrieb sind Parallelgesellschaften entstanden, in denen sich Ossis und Wessis aus dem Weg gehen. Nur wenigen Ostdeutschen wurde zum Beispiel die Leitung von wichtigen deutschen Kultureinrichtungen uebertragen. Ein erfolgreicher und prominenter Kultur-Ossi ist in der Regel jemand, der sich mit sich und seinen Problemen beschaeftigt.

Die Berliner Volksbuehne von Frank Castorf wurde zum Ort fuer die Austragung des vermeintlichen Andersseins. Das hatte allerdings nur oberflaechlich mit den Polaritaeten zwischen Ost und West zu tun. Anderssein hiess an der Volksbuehne Widerspruch gegen die (nun buergerliche) Konvention, und die hatte die ehemalige DDR-Bevoelkerung in Wahrheit nach 1989 ja mit Gruendlichkeit und Enthusiasmus uebernommen.

Die Juengeren in unserer Gesellschaft kennen die Geschichte der deutschen Vereinigung entweder nur aus Erzaehlungen oder aus Kindertagen. Fuer sie, moechte man meinen, spielt das Postulat des kulturellen Anersseins von Ost und West moeglicherweise keine Rolle mehr. Ob das wirklich so ist oder sie doch in die diesmal noch frischen Fussstapfen ihrer Eltern treten, wird sich in den kommenden Jahren deutlicher zeigen als bisher.

Der Prozess der Einheit hat Kraft und Konzentration gekostet. Was als Verspiesserung beschrieben wird, koennte mit der zwanzigjaehrigen Beschaeftigung mit sich selbst zu tun haben, die sich Deutschland auferlegt hatte. Vielleicht wird es noch lange dauern, bis zusammenwaechst, was von sich glaubt zusammenzugehoeren. Vielleicht ist der Prozess hingegen bereits abgeschlossen, und heutige Ressentiments und Kontroversen zwischen Ost und West unterscheiden sich in nichts von Empfindlichkeiten von sozialen Gruppen in anderen Laendern unterhalb der Schwelle berechtigter Beunruhigung.

Bestimmt ist Deutschland mit dem Integrieren von 17 Millionen Landsleuten sozialpolitisch etwas gelungen, das wahrscheinlich in Europa beispiellos ist. Dass darueber die Aufmerksamkeit fuer die Welt draussen im Lande nachgelassen hat, mag zu verschmerzen sein, aber nicht fuer lange. Dazu ist die heutige BRD ein zu wichtiger Faktor in der europaeischen und globalen Kultur.

Kultur in und aus Deutschland ist international relevant. Aller Schwaechen des Kulturbetriebs zum Trotz. Das hat nicht wenig mit dem Erbe gemeinsamer Geschichte zu tun, dass Ost und West teilen. Und somit unbedingt mit dem Umgang, den die damals noch sehr Rheinische Bundesrepublik nach 1989 mit diesem gemeinsamen kulturellen Erbe gepflegt hat. Bereits vor der Herstellung der politischen Einheit im Oktober 1990 hatte die Regierung Kohl an einem Substanzerhaltungsprogramm fuer die Museen, Orchester und Theater der DDR zu arbeiten begonnen, ohne das wahrscheinlich die durch langjaehrige Vernachlaessigung der DDR-Behoerden und die anfangs aussichtslos schwache wirtschaftliche Lage der Gebietskoerperschaften in den neuen Bundeslaendern vor dem Zusammenbruch stehende Kulturlandschaft Ost tatsaechlich untergegangen waere. Allem zunaechst verhaltenen, spaeter lautstarken Protest vor allem grosser westdeutscher Bundeslaender (wie Bayern und Nordrhein-Westphalen) zum Trotz hat der Bund Milliardenbetraege zur Erhaltung von Schloessern, Buehnen und Musikschulen bereitgestellt. Die Ex-DDR, das war jetzt wieder und irgendwie immer noch die Duodez-Kultur des neunzehnten und fruehen zwanzigsten Jahrhunderts. Das waren aber auch Weimar, Bach und das Gruene Gewoelbe.

Wer heute durch Osteuropa reist, kann besichtigen, wie zwanzig Jahre nach dem Ende der kommunistischen Unfreiheit der neue Kapitalismus oft nationale Kulturschaetze verkommen laesst. Deutschland ist das weitgehend erspart geblieben. Kultur ist nicht als leicht verzichtbarer Luxusartikel begriffen worden. Die Initiative der Bundesregierung hatte einen Namen, der der Buerokratenpoesie entliehen war: Substanzerhaltungsprogramm. Und es war genau das. Mit der deutschen Einheit gewann dieses Land unwaegbar bedeutende Substanz zurueck, dank der materiellen Hilfe zur Erhaltung der Kulturlandschaft in der ehemaligen DDR.

Erschienen in „Ostalgie global“, C. Links Verlag, 2010

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