Michael Schindhelm | DAS DEUTSCHE PFARRHAUS

Das deutsche Pfarrhaus

Durch Zufall wurde ich in Eisenach geboren. Ein paar hundert Meter entfernt sowohl von der Wartburg, wo Luther inkognito die Bibel uebersetzte, als auch von Bachs Geburtshaus. Eisenach gehoert zur Topographie des Protestantismus, und obwohl ich abgesehen von meinen ersten Tagen dort nicht gelebt habe, ist diese Landschaft wahrscheinlich der best erhaltene Hintergrund meiner persoenlichen Geschichte. Man kann aus der Kirche austreten (wie ich getan habe), vom Glauben abfallen, jedoch einen solchen Hintergrund wird man vielleicht nicht los.

Waehrend der Pubertaet zog es mich zum Beispiel in die Kirche, nicht wegen der Predigten und Gebete natuerlich, sondern wegen des Evangelischen Kirchenlieds. Angelus Silesius, Gerhardt und Zinzendorf oeffentlich Singen, das  hat mir den Weg eroeffnet zu Hoelderlin, Novalis, Nietzsche (alle vom Protestantrismus affiziert). Durch die Familie meines Onkels, viele Jahre Kirchenmusikdirektor in Weimar, wurde ich vertraut mit der froehlichen Askese von Christen mitten im Atheismus: Kein Geld und viel Musik.

Ende der siebziger Jahre, – Biermann war ausgebuergert, die Stunde hatte geschlagen fuer Bettina Wegner, Gerulf Pannach, Rudolf Bahro etc – , lernte ich den Studentenpfarrer der Technischen Hochschule Merseburg kennen. In Friedrich Schorlemmers Zuhause, wo ich mich als Internatling einer Kaderschule gar nicht haette aufhalten duerfen, herrschte (wie bei meinem Onkel) die mit Care-Paketen aus dem Westen aufrecht erhaltene Duerftigkeit des Kirchenangestellten in der DDR: Boheme mit Kinderschokolade und Persil.

Man kennt die widerspruechliche Geschichte des dissidenten DDR-Pfarrhauses. Bei Schorlemmer ging es aber nicht nur um „Meinungsfreiheit“, sondern um kritisches Denken. Wer sich eingesperrt fuehlt im eigenen Land, hat es schwer, einen Sinn in seinem Dasein zu finden. Der Protestantismus bot damals auch keinen Sinn an (schon gar keinen metaphysischen), aber eine Gelassenheit gegenueber der Sinnlosigkeit.

Beinah waere ich Pastor geworden, und studierte dann doch Chemie in der Sowjetunion. Bis kurz vor dem Ende der DDR sah es so aus, als sei das Durchhalten der evangelischen Kirche in der DDR ein ebenso trotziges wie aussichtsloses Projekt des „Hier stehe ich und kann nicht anders“. Die Kirchen leer, die Predigten an oft imaginaere Glaeubige gerichtet. Praktizierter Protestantismus wie eine Performance der Avantgarde.

Max Weber hat den protestantischen Rationalimus als Urheber des (angelsaechsischen) Kapitalismus entdeckt. DDR-Protestantnismus war das Gegenteil. Er war antirationalistisch. Er war.

Erschienen in „Das deutsche Pfarrhaus“, Christine Eichel (Hrsg.)

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