Michael Schindhelm | KULTURKOMBI NEW YORK-MEININGEN

Kulturkombi New York-Meiningen

Auf einer Konferenz zum Thema „Cultural Leadership“, die vor ein paar Wochen an der Hongkong University abgehalten wurde, sollte ich ueber internationale Kulturzusammenarbeit sprechen. Man erwartete vor allem mehr ueber meine Erfahrungen in Dubai und in Hongkong selbst zu erfahren, wo ich jeweils in den letzten Jahren am Aufbau von Infrastukturprojekten beteiligt gewesen bin, an der Planung von Theater- und Museumsneubauten, Fragestellungen zur kulturellen Vermittlung, zur Entwicklung von Kulturinstitutionen.

Meine Arbeit im Ausland hat mich inzwischen zweierlei gelehrt: In einem fremden kulturellen Kontext beginnt man automatisch, sich staerker als zu Hause mit der eigenen kulturellen Identitaet auseinander zu setzen. Ausserdem betrachtet man das einheimische Modell der Kulturfoerderung und –vermittlung mit mehr Respekt, als man das im eigenen Land tut, sobald man „draussen“ erkennen muss, wieviel schlechter es Kuenstlern und ihren Organisationen gehen kann als in Deutschland.

Was den ersten Punkt anbetrifft, so habe ich mich im Laufe der Zeit daran gewoehnt, im Ausland viel mehr als ein Deutscher gesehen zu werden und Deutschland zu vertreten als  zu Hause, wo das nicht zu jeder Gelegenheit eine Rolle spielt, denn wo nahezu alle „deutsch“  sind, muss man sich nicht darueber den Kopf zerbrechen, was das heisst. Vereinfacht gesagt, provoziert man in Russland, Frankreich, Polen und Israel zum Beispiel manchmal immer noch duestere Erinnerungen, in Dubai oder China kommt man aus der Heimat der Porsches und Daimlers, in der Schweiz repraesentiert man eine Nachbarnation, die sich ab und an arrogant und ignorant ueber die Eigenheiten des helvetischen Gemeinwesens hinwegsetzt.

Mit anderen Worten, das Ausland macht einen Kulturtechniken erlernen, wie man in einer fremden Umgebung mit den verschiedenen Facetten der eigenen nationalen Identitaet umgeht. Und gleichzeitig fragt man sich natuerlich nach der Relevanz dieser Facetten an einem selbst: Wieviel Porsche, wieviel Arroganz oder gar wieviel Totalitarismus stecken etwa in mir?

Obwohl mein Publikum von mir mehr ueber Dubai und den West Kowloon Cultural District von Hongkong hoeren wollte, begann ich meinen Vortrag mit Thueringen und Eisenach, dem Ort meiner Herkunft. Zeigte Bilder von der Wartburg und dem Bachhaus, berichtete von Herzog Georg I. und den Meiningern und dass sich die Fuersten kleiner Herrscherhaeuser vor hundertfuenfzig Jahren bei mir zu Hause einen eifrigen Wettbewerb um Museums- und Opernbauten lieferten und in Staedten mit weniger als zehntausend Einwohnern Orchester und Theater mit siebenhundert Sitzplaetzen gruendeten, an denen bald Richard Strauss dirigieren oder Johannes Brahms Urauffuehrungen zustande bringen wuerde. Der Herzog von Meiningen beorderte die hoeheren Staende zu Konzerten und Theatervorstellungen und befahl seine Leibgarde vorsorglich an den Theaterausgang, damit niemand das Haus vor Ende der Vorstellung verliess. So haben im Deutschland des neunzehnten Jahrhundert Kulturvisionen und Aufklaerungsabsichten von Residenzherrschern ausgesehen. Die Ambitionen der oelreichen Emire am Persischen Golf von Abu Dhabi oder Katar saehen so absurd nicht aus, fuhr ich in meinem Vortrag fort, wenn man in die eigene Kulturgeschichte zurueckgehe und von dort die Gegenwart anschaue. Das Meiniger Theater zum Beispiel, habe ich den Leuten in Hongkong berichtet, gebe es auch knapp zweihundert Jahre spaeter noch: als Vierspartenhaus mit grosser Oper, Tanz, Schauspiel und Kindertheater, mehreren Buehnen (das Haupthaus werde gerade fuer mehrere Millionen Euro staatlicherseits saniert), ein paar hundert Mitarbeitern, die wiederum mehrere hundert Vorstellungen pro Saison absolvierten und dafuer ein zweistelliges Millionenbudget zur Verfuegung haetten, das vor allem aus der oeffentlichen Hand fliesse. Meiningen sei eine Stadt mit knapp zwanzig tausend Einwohnern.

Durch alle Umbrueche und politischen Katastrophen hindurch hat es Deutschland zweifelsohne geschafft, eine Nation an einmalig reicher Kultur zu sein, in der sowohl Traditionen und Erbe gepflegt werden, wie auch deutsche wie internationale Kuenstler in grosser Zahl und mit exzellenter Qualitaet ihre Arbeit tun. Deutschland hat wohl das dichteste Theater- und Orchesternetz der Welt. Unter den global wichtigsten hundert Gegenwartskuenstlern kommen ueber zwanzig aus Deutschland, so viele wie aus keinem anderen Land, andere leben als Auslaender in Berlin oder einer anderen deutschen Stadt. Schriftsteller der deutschen Sprache haben innerhalb von zehn Jahren dreimal den Nobelpreis fuer Literatur erhalten, und auch der internationle Oscar ging kuerzlich und nicht zum ersten Mal an einen deutschen Film bzw. seinen Regisseur.

Natuerlich habe ich das nicht alles meinen Zuhoerern in Hongkong erzaehlt. Stattdessen habe ich – nachdem ich auf Dubai und Hongkong zu sprechen gekommen war und aus diesen Erfahrungen Schluesse zu ziehen versucht hatte – dafuer plaediert, dass sich die Kulturpolitiker in Hongkong, wo in den kommenden zehn Jahren ein grosser Komplex (der West Kowloon Cultural District) mit fuenfzehn Theatern und einem Museum der Groesse des Centre Pompidou entstehen soll, in verschiedenen anderen Laendern umschauen, wie diese jeweils ihre Museen und Theater errichtet und die dazugehoerigen Organisationen aufgebaut haben, bevor man sein eigenes Konzept fuer Hongkong sucht. Um zu illustrieren, wie unterschiedlich Laender und Staedte mit ihrer jeweiligen Kultur umgehen, habe ich New York, Hongkong, Berlin und Stuttgart miteinander verglichen. Ganze 0.5% seines Etats habe 2007 der Staat in New York fuer Kultur ausgegeben, in Hongkong seien es sogar nur 0.1% gewesen, waehrend die Stuttgarter 6% und die Berliner 2.3% berappt haben. Aber Big Apple verfuege ueber 770 Galerien, 90 Museen und 180 Theater, und da koennten dann die Deutschen nicht mithalten. Zumindestens an Zahlen.

Trotzdem habe ich in Hongkong wie so oft in den letzten Jahren nichtwestlichen Regierungsorganisationen mit grossen Ambitionen in Sachen Kulturaufbau empfohlen, sich nicht geradezu reflexartig angelsaechsische Modelle anzueignen, wenn es darum gehe, ein Konzept fuer die Entwicklung, Organisation und Finanzierung von neuen Kunstorganisationen zu entwerfen. Unbestritten sind New York und London Weltkulturstaedte wie wenige andere, aber so etwas wie Meiningen gibt es eben weder auf den britischen Inseln, noch in den USA. Und auch nicht so etwas wie Berlin oder Stuttgart oder besser gesagt Berlin und Stuttgart und die vielen anderen Kulturhauptstaedte, die unser Land zu bieten hat.

Im Grunde plaediere ich in meiner Arbeit als internationaler Kulturberater fuer eine Kombination von New York und Meiningen (ohne die herzogliche Leibgarde vor der Tuer, aber mit viel Aufklaerung). Ueberall dort, wo ausserhalb des Abendlandes heute grosse Anstrengungen unternommen werden, Kunst und Kultur zu einem wesentlichen Bestandteil der gesellschaftlichen Entwicklung zu machen (und dies haben immerhin eine Menge Regierungen im Moment vor), muesste man die Alternativen von New York und Meiningen aufzeigen koennen. Aber jeder kennt New York und niemand Meiningen.

Noch schlimmer: Meine Erfahrung der letzten drei bis vier Jahre im Mittleren und Fernen Osten hat gezeigt, dass die Planer von Kulturbauten sich fast immer an angelsaechsischen Kulturkonzepten orientieren. Dank meiner Arbeit habe ich in dieser Zeit Zugang zu Strategiepapieren etlicher nichtwestlicher Regierungsorganisationen gehabt und in der Regel feststellen muessen, dass (mit der seltenen Ausnahme von Frankreich) nicht einmal mehr Europa im ganzen als potentieller Partner in solchen Papieren vorkommt.

Vielleicht habe ich ja die falschen Papiere gelesen oder bin in den ungeeigneten Staaten taetig, aber ich gebe zu, dass mich diese Beobachtung nicht nur nachdenklich gemacht hat, sondern stoert. Trotz Oscar und Nobel, Goethe-Institut und Deutsche Welle: Wenn sich Regierungen im Mittleren oder Fernen Osten damit beschaeftigen, welches Kultur-Betriebsmodell, welche Software, fuer ihre eigenen Planungen der naechsten Jahrzehnte relevant sind, kommt Deutschland nicht vor.

Im Ausland neigt man wie gesagt dazu, dem eigenen Kultursystem mehr Respekt zu schenken als zu Hause. Grosse Kulturbetriebe wie Opern, Museen oder Theater leiden in Deutschland manchmal unter sklerotischen Strukturen, in denen Reformen schwer moeglich sind. Trotzdem verteidige ich „draussen“ das Modell Meiningen: eine solide staatliche Foerderung und Foederalismus bis ins kleinste Gemeinwesen.

Dennoch kann man nicht uebersehen, dass dieses Betriebsmodell, die Software deutsche Kultur, nicht gerade ein Exportschlager ist. Muesste sie das denn?

Fuer mich kann die Antwort nur Ja bedeuten. Es gibt gute – also schlimme – Gruende, warum die Bundesrepublik Deutschland nach 1945 mit grosser Vorsicht und Zurueckhaltung auswaertige Kulturpolitik betrieben hat. Mit der deutschen Einheit gab es zunaechst neue Gruende dafuer, das Thema nationaler Kultur und ihrer Vertretung im Ausland nicht allzu sehr aufzubauschen.

Nach meinem Eindruck haben sich aber mit dem angehenden Jahrzehnt unter anderen  zwei wesentliche Dinge geaendert: mit der globalen politischen und wirtschaftlichen Gewichteverlagerung von West nach Ost verlieren die USA allmaehlich ihre Funktion als einzige Supermacht; ausserdem hat die Globalisierung im Verlaufe der letzten Jahre beinahe ploetzlich alle Bereiche der Kultur erfasst.

Man koennte sagen, die erste Welle der – im Grunde amerikanischen – Globalisierung geht zuende. Die Frage ist, was kommt jetzt? Inzwischen, koennte man sagen, stehen drei unterschiedlich weit voneinander entfernte Systeme von Soft Power (Kulturkreisen) weltweit zueinander in Konkurrenz: die USA (freie Marktwirtschaft), Europa (soziale Marktwirtschaft) und China (im Verein mit Alliierten, zu denen auch Indien, Russland und z.B. erfolgreiche islamische Staaten gehoeren koennten).

Die Frage nach einer neuen Cultural Diplomacy hierzulande scheint besonders relevant, weil Kultur bzw. Soft Power einen neuen Stellenwert in diesem Wettbewerb einzunehmen beginnt. Zum Beispiel haben chinesische Wissenschaftler beobachtet, dass Softpower immer noch die eigentliche Staerke des Westens ausmache: Diese Nationen besaessen die hoechsten kulturellen und ethischen Standards, weshalb sie internationale Institutionen beherrschten und andere Laender nur zuliessen, sofern sie sich diesen Standards anschloessen. Diesen Wissenschaftlern zufolge gehe es heute nicht mehr um Land, Ressourcen oder Maerkte, sondern um die Formulierung von Regeln und die Setzung von Konventionen.

Kann sich Deutschland, mit bezug auf seine Kultur und deren Austausch mit anderen Kulturen, aus diesem Wettbewerb der Systeme heraushalten? Oder ist umgekehrt der europaeische und insbesondere deutsche Begriff von oeffentlicher Kultur und Aufklaerung, Meinungsfreiheit und Gleichheit globalisierbar? Denn er ist alles andere als global akzeptiert. Selbst in Laendern des Westens gilt er nicht mehr ueberall. Sollte nicht gerade Deutschland – das „Land der Ideen“  – fuer ihn einstehen?

Derzeit finden erstaunliche Transformationen im urbanen Zusammenleben von Menschen aus verschiedenen Kulturkreisen statt. Im Pearl River Dealta, in Dubai, Shanghai oder Mumbai sind Laboratorien entstanden, in denen sich in den kommenden Jahrzehnten neue Formen kreativen Ausdrucks herausbilden werden.

Deutschland braucht eine Denkfabrik, in der Kunst, auswaertige Politik, Wissenschaft und Wirtschaft der Frage nachgehen, wie sich deutsche Soft Power international darstellen laesst. Anders gesagt: das Modell Meiningen Plus Berlin. Die Alternative ist, entweder in Schoenheit vereinsamen oder fuer das eigene Modell einstehen und es auf seine Globalisierbarkeit pruefen.

Am Tag der Konferenz in Hongkong berichtete die Herald Tribune auf der Titelseite von dem Gegensatz zwischen einem neuen Deutschland und einem alten Italien. Es ging in dem Artikel um die Fussballweltmeisterschaft. Die Deutschen seien jung und dynamisch. Einige ihrer Spieler haetten die Moeglichkeit gehabt, entweder fuer Deutschland zu spielen, wo sie aufgewachsen seien, oder fuer die Tuerkei, Tunesien, Ghana oder Nigeria. Der Held der deutschen Mannschaft sei ein gebuertiger Brasilianer. Diese Spieler, so Herald Tribune, seien ein Beispiel dafuer, wie die neue heutige Gesellschaft Deutschlands aussehe.

Erschienen in Kulturaustausch (Magazin). 

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