GLÄSERNE STADT: EINE ZEITREISE DURCH DRESDEN FÜR „STADTLUFT“
In der Nacht vom 11. auf den 12. Juli 1939 tauchte ein greller Feuerball am Himmel südöstlich von Dresden auf und wurde noch aus mehreren hundert Kilometern Entfernung beobachtet. Ein Meteorit von vierzig Kilo Gewicht, der sich im Garten von Herrn Solomon zwei Meter tief in den Boden grub. Herr Solomon buddelte die Sendung aus dem Universum am nächsten Morgen aus und verkaufte sie schließlich für einen Spottpreis an einen Zahnarzt, der von der Sache Wind bekommen hatte und den Stein dem alten Herrn abschwatzte. Der zunächst ahnungslose Finder musste jedoch bald mit eigenen Ohren hören, der Meteorit sei teuer an die nahegelegene Universität verkauft worden und habe dem Zahnarzt mehrere hundert Dollar eingebacht. Kanadische Dollar. Die Stadt Dresden, in der Herr Solomon zu Hause und der kosmische Stein niedergegangen war, liegt in Ontario.
In Nordamerika gibt es mindestens ein Dutzend Mal diesen Ortsnamen. Dörfer oder Kleinstädte, sind sie oft die Gründung deutscher Aussiedler aus dem neunzehnten Jahrhundert. Zwei davon gibt es allein im Staat New York. Als im Big Apple der 1970er Jahren Kriminalität und Randale überhandnahmen, fanden Manche für den Osten der „Fear City“ oder für Brooklyn angesichts der verbreiteten Brandstiftungen keinen treffenderen Vergleich als „Dresden“.
Die angloamerikanische Welt hat die sächsische Residenzstadt, deren historischer Körper im Februar 1945 für immer vernichtet wurde, nicht vergessen. Auch die jüngere Populärkultur erinnert sich. In North Carolina entstand vor etwa zwanzig Jahren die Punkband „Sorry about Dresden“, die Bostoner „Dresden Dolls“ lieben das Genre der Mythen und Monster und haben 2002 sogar das Unterhaltungsprogramm zur Nobelpreisfeier in Cambridge, Massachusetts, ausgerichtet. Was die Damen offenkundig an dem Bandnamen gereizt hat, ist die Kombination aus Zerstörung (Dresden) und Unschuld (Puppen).
Ich bin kein Punkmusiker, auch kein Dresdner, kein Heimischer, eher ein Keinheimischer. Den Ort, den Dresden in meinem Leben einnimmt, kann ich nicht recht definieren. Das hat mich veranlasst, aus Neugier und Verwunderung darüber, hin und wieder in die Stadt zurückzukehren. So auch gerade jetzt, in diesen Wochen und Monaten.
Sie beherrschte bereits die kindliche Fantasie. Die Zeit, da nicht Meteoriten, sondern Jagdbomber und Flakgeschütze für die Illuminationen am Himmel über Deutschland sorgten, war noch nicht allzu lange vorbei. Vater und Mutter erfuhren, da sie in meinem Alter waren, jenes unvergessliche Grauen, und in ihren Erzählungen von damals lebte es auf, so heftig, wie ich es mir nur wünschen konnte. Vielleicht war es die unter Kindern bekanntlich nicht ungewöhnliche Lust am Makabren, die mich veranlasste, den Vater zu drängen, mir die Geschichte von Dresden immer wieder zu schildern. Die Vorstellung, dass schwimmende Menschenkörper im Fluss weiter brannten, war und ist unauslöschlich, lodert bis heute, gleißend, wie wohl die phosphoreszierenden Körper von einst.
Vater hatte nach dem Krieg in der Stadt studiert und führte mir an den Schwarz-Weiß-Fotografien aus Bildbänden, die er von seiner Mutter geerbt hatte, vor, wie Dresden vor 1945 ausgesehen haben musste. Als wir ab 1964 regelmäßig Sommerwochen bei Studienfreunden von ihm in Dölzschen verbrachten, erkannte ich die Stadtansichten in den Trümmerhaufen zwischen Zwinger und Grünem Gewölbe freilich nicht wieder. Zwanzig Jahre nach seinem Ende war der Krieg eine unmissverständliche Wirklichkeit, klang die an sich längst zur ideologischen Routine gewordene Sowjetparole „den Weltfrieden sichern“ immer noch plausibel.
Unbestätigten Nachrichten zufolge hätte die Bombenlast im Februar 1945 nicht Dresden, sondern ein aus irgendwelchen Gründen militärisch bedeutenderes Ziel treffen sollen: Gera etwa, in Ostthüringen. Ich erinnere, wie die Mutter einmal sagte, in dem kleinen Gera hätte die Bombardierung wahrscheinlich niemand überlebt. „Dann wärst du gar nicht auf der Welt.“ Mutter war in Gera geboren worden.
Nichts regte damals meine Vorstellungskraft an, auch nicht die brennenden Körper, wie jene Kuppel und die Minarette, die über die realsozialistische Tristesse der Stadt triumphierten und schon vor fünfzig Jahren die Möglichkeit einer fremden reizvolleren Welt hinter dem Horizont versprachen. Das Kind sah damals stets nur die ferne Silhouette, und so blieb der Zauber erhalten. Kommt man dem Yenidze zu nahe, verwandelt es sich in ein Gebäude. Immer noch ein interessantes Gebäude, das Legenden umranken wie die des Architekten, dem der erste Stahlbetonbau der Industriearchitektur gelungen war und der Jahrzehnte später Adolf Hitlers Halbschwester heiratete. Aber eben ein Gebäude.
Es mag an der sichtbaren Zerstörung gelegen haben, dass ich einen Sinn entwickelte für das heikle Gewerbe der Baukunst. Dresden hatte ja nicht nur Semper, sondern zum Beispiel auch William Lossow, den Baumeister des Leipziger Hauptbahnhofs und des Dresdner Schauspielhauses. Vom Tor der Sempergalerie wirkte das Dach des Theaters wie ein Sargdeckel über dem Kronentor. Ich vernahm das Gerücht, der Architekt habe sich von dort heruntergestürzt, als ihm das – zu spät – aufgefallen war. Lossow starb in Wahrheit an einem Nierenleiden in Heidelberg, sein Assistent hatte noch Jahrzehnte vor sich.
Die Fabel vom Architekten-Suizid passt zu dem Bild eines angeblich modernefeindlichen, traditionsbesessenen Stadtmilieus. Doch die Zeit vor und nach der Jahrhundertwende, als unter anderem eben dieses Schauspielhaus entstand, widerspricht diesem Bild. Dem Edlen von Schuch hatte die Oper zu verdanken, eines der mutigsten Häuser Europas zu sein. Richard Strauss hatte hier einige seiner wichtigsten Uraufführungen. Der Edle, für den die Stadt einen „Schuch-Zug“ einrichtete, mit dem er rechtzeitig für Probe und Vorstellung zwischen dem Königlichen Hoftheater und Radebeul pendelte, war sich nicht zu schade, hinter dem Vorhang des Schauspielhauses die bizarren Auftritte von Madeleine Guipet zu begleiten, die georgische Schlaftänzerin. Eine Frau steht in weißem Tüllkleid auf der Bühne und wird von einem Magnetiseur in Hypnose versetzt. Sie sinkt in einen Lehnstuhl, erhebt sich jedoch wieder, nachdem dank Schuch hinter dem Vorhang die cis-Moll-Nocturne einsetzt. Die Frau ist jetzt sie selbst und nicht sie selbst. Obwohl immer noch schlafend, bewegt sie sich in dramatischen Figuren über die Szene, das Gesicht von namenloser Leidenschaft gezeichnet, wie nach einer perfekt einstudierten Choreografie. Mit dem letzten Klavierton kehrt sie, von einer rätselhaften Macht geleitet, zu dem Lehnstuhl zurück.
Die Guipet beschäftigte damals die wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Kreise gleichermaßen und zog als parapsychologische Attraktion durch die Theater und Opernhäuser des Reiches. Für viele Zuschauer schien sie der Beweis der noch immer umstrittenen Behauptungen Sigmund Freuds, dass nicht das Bewusstsein, sondern das Unbewusste im Menschen bestimmend sei. Eine geheimnisvolle Spur führte von diesen Schlaftänzen hinaus aus den konventionellen Beschränkungen dessen, was vor einem Jahrhundert als Kunst galt und was nicht.
Hinaus führten Heckel, Kirchner und Freunde, die in der Berliner Straße ein paar Jahre zuvor in einem Ladenlokal „Die Brücke“ gegründet hatten. Hinaus führten die Deutschen Werkstätten, die vor dem Weltkrieg den Plan für eine Gartenstadt gefasst und sich John Ruskins Idee des Arts and Crafts Movement zum Vorbild genommen hatten. Spätestens nachdem Émile Jaques-Dalcroze das Institut für Musik und Rhythmus gründete, wurden Hellerau und die jährlichen Festspiele mit ihren eurythmischen wie sozialen Experimenten „zur Veredelung der menschlichen Rasse“ über Dresden und Deutschland hinaus zu einem utopischen, glamourösen Ort, die Künstler wie die Schriftsteller Theodor Däubler, George Bernard Shaw und Rainer Maria Rilke oder den Impresario Sergei Djagilew angezogen.
Dem Kind, das ich in den sechziger Jahren war, hat sich natürlich der „Gläserne Mensch“ ins Gedächtnis eingetragen. Allen Transformationen zum Trotz, die dieser Begriff seitdem erlebt hat, habe ich ihn als eine Metapher für das Verhältnis von Technik und Natur verstanden. „Das ist kein richtiger Mensch“, dachte ich bei der ersten Begegnung im Hygiene-Museum. Vor ein paar Monaten beobachtete ich, wie ein Roboter eine internationale Konferenz moderiert, und die Damen und Herren von der Wissenschaft unterwarfen sich gerne und amüsiert seiner Gesprächsführung. Die Frage, was ein richtiger Mensch ist, lässt sich nicht mehr so einfach beantworten wie vor fünfzig Jahren.
Auch Karl August Lingner führte hinaus aus dem stickigen Reich der Konventionen. Mit der Internationalen Hygiene-Ausstellung von 1911 schrieb sich der Hersteller des Mundwassers Odol in die apokryphe Geschichte der Alltagsmoderne ein, in der Absicht, „einmal im großen Stile eine Belehrung der Allgemeinheit über die Gesundheitspflege zu unternehmen“. Mehr als fünf Millionen Besucher wurden in sorgfältig kuratierten Pavillons über die hygienischen Gefährdungen von Jung und Alt, über die Ursachen von Tripper, Malaria und Tuberkulose, über Krankenversicherung und Berufsunfälle aufgeklärt. Die Aussteller kamen aus elf Ländern, darunter China und Brasilien, Japan und Russland. Der Mensch, ein Arbeiter, eine Maschine, ein Mysterium.
Vielleicht lag es an dem offenkundigen Widerspruch zwischen dem Gläsernen (also technischen) und dem romantischen Menschen, jener inzwischen raren Spezies, die die poetische Peripherie dem zwitschernden Zeitgeist vorzieht, dass mich bereits zu DDR-Zeiten und erst recht danach apokryphe Künstler-Gestalten zu interessieren begannen. Menschen, die aus unterschiedlichen Gründen das Exil, die Fremde, das Abenteuer suchten, gab es auch in Dresden. Sascha Schneider gehört zu ihnen, der Russlanddeutsche aus Sankt Petersburg, der, als Homosexueller immer auf der Hut vor dem Paragrafen 175, Karl Mays Romane illustrierte, für die erste Schwulenzeitschrift „Der Eigene“ arbeitete und sich nach ruhelosem Leben in Loschwitz und Hellerau niederließ.
Oder Gerhard Wolf, Dresdner Großbürgersohn und Absolvent des Vitzthum-Gymnasiums, der nach Erstem Weltkrieg und Studium unter Gustav Stresemann in den diplomatischen Dienst eintrat. Gegen Ende des nächsten Weltkrieges rettete Wolf, inzwischen Konsul des Dritten Reiches in Florenz, das Leben von Juden und politisch Verfolgten und verhinderte die Sprengung des Ponte Vecchio durch die Wehrmacht. Menschlichkeit, erzählt die kompliziertere Geschichte, gab es auch unter NSDAP-Mitgliedern. Seit nunmehr zehn Jahren erinnert eine Tafel auf der Brücke an den Mann aus Dresden, den die Italiener trotz seiner politischen Vergangenheit bereits in den fünfziger Jahren zum Ehrenbürger machten.
Die Moderne zeigte wie überall, so auch in Dresden zunächst das rußverkrustete Antlitz von Industrialisierung, Ausbeutung und Landflucht. Die Droge des Tabaks machte von hier aus deutsche Karriere, nachdem Moskau und St Petersburg zu Umschlagplätzen geworden waren und 1862 der baltendeutsche Baron von Huppmann in Dresden eine Filiale seines Unternehmens „La Ferme“ gegründet hatte. Jahrzehnte später war Deutschland der weltweit größte Tabakimporteur. Viele Händler waren Juden aus Südrußland, die vor Pogromen aus der osteuropäischen Heimat flüchteten, oder Griechen, die ihre Laufbahn bei La Ferme begannen, zum Beispiel Georg Anton Jasmatzi. In diesem Namen kommen sie zusammen, das biedere, gründerzeitliche Abend- und das abenteuerliche, genussverheißende Morgenland. Eine seltsame Melange aus Ost und West, wie sie durch die Pulp Fiction mit Kara Ben Nemsi und Winnetou zieht oder die Tanzexperimente von Hellerau berauscht.
Der wohl heute unbekannten und in meinen Augen zugleich magischsten dieser apokryphen Figuren habe ich vor ein paar Monaten die erste Biografie in deutscher Sprache gewidmet: dem Musiker, Künstler und Weltreisenden Walter Spies, der nach zwanzig Jahren in Niederländisch-Indien und vor allem auf Bali 1942 als holländischer Prisoner of War vor der Küste Sumatras mit einem durch japanische Bomben versenkten Gefangenschiff im Indischen Ozean unterging. Spies war Teilzeit-Dresdner gewesen. 1895 in Moskau als Sohn in eine großbürgerliche Familie von Rußlanddeutschen geboren, hatte Spies vor dem Ersten Weltkrieg zusammen mit dem bereits erwähnten Gerhard Wolf die Bank des Vitzthumschen gedrückt. Onkel Albert leitete gerade die berühmte Striesener Zigarettenfabrik La Ferme und bewohnte die Villa Asta in der Wachwitzer Grundstraße. Im Sommer begleitete Spies Freund Wolf auf das Familiengut Nekljudowo südlich von Moskau. Beide wurden vom Krieg überrascht. Spies verbrachte die folgenden vier Jahre als Kriegsgefangener im eigenen Land, unter Baschkiren, Tataren und Kirgisen im südlichen Ural. Wie noch oft machte er aus der Not ein Fest, lernte die Sprachen der Nomaden, spielte ihre Musik. 1919, nachdem er sich auf eigene Faust von der asiatischen Steppe bis ins Revolutionsdeutschland durchgeschlagen hatte, zog er für einige Zeit wieder zurück an die Elbe. Die erste Ausstellung der Dresdner Secessionisten war soeben eröffnet worden. Spies wurde von der Gruppe 1919 aufgenommen, zu der neben Otto Dix und Conrad Felixmüller auch Gela Forster, die Bildhauerin und spätere Frau Alexander Archipenkos, und der Verleger Hugo Zehder gehörten, sowie der ältere Kokoschka.
Nachrichten über Chagall, die Oktober-Revolution, den Konstruktivismus und vor allem die baschkirischen Volkslieder trugen ihm unter den Dresdner Revoluzzern Respekt und Sympathie ein. Bianca Segantini, Schauspielerin und Tochter des österreichischen Symbolisten Giovanni Segantini aus dem Bündnerland, hatte besonders rasch Feuer gefangen. Sie war vielleicht nicht die erste und gewiss nicht die letzte Frau, die von Walter über seine Veranlagung für eine quälend lange Weile im Ungefähren gelassen wurde. Obwohl mit dem Verleger Hugo Zehder verheiratet, machte Segantini dem großen, blonden Russlanddeutschen offenbar unverhohlen den Hof und ließ sich unter ihren Freundinnen amüsiert über Walters seltsames Geplänkel zwischen Scheu und Hingabe aus.
Walter Spies zog nach Hellerau, zu Hedwig Jaenichen-Woermann, Malerin und Tochter eines Reeders und Kolonialwarenhändlers in Hamburg, die Sommermonate in der Gartenstadt. Einst Schülerin von Auguste Rodin und ehemalige Mitarbeiterin von Antoine Bourdelle, erlaubte Hedwigs Lebensform jene Freizügigkeit, nach der Walter sich seit den trostlosen Berliner Tagen sehnte. Es wimmelte von Klavieren, Haustieren und vor allem von Kindern aus diversen Ländern, die sie adoptiert hatte und die in ihrem Hause dieselben Privilegien genossen wie die Künstler, die regelmäßig bei ihr logierten. Hedwig war von Walters Schönheit derart entzückt, dass sie seinen Kopf modellierte, während der »Jüngling« auf dem Balkon schlief. Selbstredend hatte er bei ihr uneingeschränkten Zutritt und durfte im Studio arbeiten.
Hans Jürgen von der Wense, ein weiterer heute unsichtbarer Geist jener Zeit, der parallel zu Schönberg atonale Musik komponierte, dichtete, fotografierte und in den sechziger Jahren einsam in Göttingen starb, kam zu Besuch. Spies feierte gerade seinen 24. Geburtstag. Jürgen notiert in seinem beredten Tagebuch: »Jeder Tag ist unser Äon.« Sie sind wie Sommerwolken, die in die weite Ferne ziehen. Sie dringen mit dem Tag in die Nacht, mit Äxten ziehen sie über Stoppelfelder, es gibt keine Gesetze. In der Tram werfen sie dem Conducteur Sprüche arabischer Meister hin, stören ein Klavierkonzert, geben sich in einer politischen Versammlung als Ausländer aus und stürmen lärmend und respektlos durch die zweite Secessionsausstellung, in der auch Pastelle von Walter hängen, auf denen monströs verunstaltete Kobolde Szenen sadistischer Folter und schauriger Menschenfresserei beobachten. Hand in Hand ziehen sie durch den Garten der Lüste, dessen Betreten Paragraf 175 unter Strafe stellt. Doch immerhin im Hause Woermann, in der Gartenstadt Hellerau, dürfen sie vorübergehend träumen: »das Gleiche. Wenn wir aufwachen, geht die Sonne unter. Wir verschwenden uns. Unser Leben ist ein Fragment.
Kurz darauf sind es wieder zwei Fragmente. Trotzdem arbeiten sie mit Berthold Viertel an Hamsuns „Spiel des Lebens“ für das Schauspielhaus. Viertels Frau Salka, die gerade den ersten Sohn geboren hat, wird später in Santa Monica die engste Vertraute von Greta Garbo werden. Das ist das „Roaring Dresden“ der Weimarer Republik.
Spies zieht es bald nach Berlin, wo er der Geliebte von Friedrich Murnau wird, und weiter nach Java, wo er am Hof des Sultans von Yogyakarta den Dienst eines Kapellmeisters versieht. Später entdeckt er Bali, das trotz Kolonialismus unverwüstliche Land der Träumenden, und steht unfreiwillig am Beginn der ersten globalen Tourismusbewegung. Die „Happy Few“ werden ihn besuchen, Charlie Chaplin, Margaret Mead, Vicky Baum, französische Aristokraten, Barbara Hutton, die damals reichste Frau der Welt. Spies, der in Dresden mit Dix die alten Meister studiert und ihre Maltechnik angewendet hatte, wird zum Begründer eines tropischen Surrealismus, Erforscher des Gamelan, Choreograf balinesischer Tänze.
Seit achtzig Jahren ziehen Generationen von Andersdenkenden und Aussteigern mit seinem Beispiel vor Augen in die Tropen auf der Suche nach einem alternativen Leben. Manche dieser meist jungen Leute sind für immer dort geblieben, andere sind später nach Hause irgendwo zwischen Sydney, Köln und Kalifornien zurückgekehrt und wohlbestallte Anwälte oder Tourismusunternehmer oder Künstler geworden. Walter Spies steht für die unbedingte Freiheit, den eigenen Weg zu gehen. Auf der Suche nach einer unverlorenen, unverlierbaren Utopie.
Von Moskau nach Dresden nach dem Ural nach Dresden nach Bali. So verlaufen die unvorhersehbaren Reiserouten jener Nomaden, die manchmal im Stillen, manchmal von der Rampe der Gegenwart ihre Werke tun, die, gelangen sie einmal ans Licht der Öffentlichkeit, diese zum Staunen erwecken. Das war schon zu Heinrich Schütz‘ Zeiten so und erfährt sicher auch Stefan Senf alias Noize Creator, ein Dresdner, der seit einigen Jahren die Technohallen Asiens zum Glühen bringt.
Wenn Dresden also eine Heimat der Moderne ist, ein Ort der Nomaden, woher kommt dann der konservative Geist? Woher Pegida und das Bild von der ausländerfeindlichen Stadt? Auf diese Frage hat es viele Antworten gegeben, und man möge mir nachsehen, wenn ich hier meine eigene anbringe.
Als mich die Landeshauptstadt Dresden vor ein paar Monaten dazu einlud, ihr bei der Bewerbung um den Titel der „Kulturhauptstadt Europas 2025“ zu helfen, habe ich in eigenen Texten aus dem ersten Jahrzehnt der deutschen Einheit nach einer Vergewisserung gesucht, warum ich damals aus Deutschland weggegangen bin, um nur noch sporadisch und meist aus beruflichen Motiven hierher zurückzukehren. Ich entdeckte den „Terror der Zeit“ wieder, deren Opfer wir in diesem Land nach 1989 geworden waren und den ich später selbst in Dubai oder in China nicht so gewalttätig erlebt habe. Er, der Terror der Zeit, hatte mich aufbrechen und von Deutschland Abschied nehmen lassen.
Erschöpft wirkte das Land im Jahr 2000, wenig aufgelegt zur Jubiläumsfeier, der Aufbau Ost hatte seine Vehemenz verloren, auf den kleinen Fortschritt waren viele Rückschritte gefolgt, das Diktum von blühenden Landschaften hatte sich in seltsamer Künstlichkeit erfüllt, Menschen, die hier anfangs heftig Freiheit und Marktwirtschaft gefordert hatten, zogen sich, sofern sie nicht in den Westen ausgewandert waren, enttäuscht zurück und schluckten den Einheitsfrust mit Köstritzer und Vita Cola runter.
Ein Politologielehrer aus Frankfurt/Oder wollte in den Ostdeutschen den „atomisierten Menschen ohne Geschichtsbewusstsein und überlieferte Wertesysteme“ erkennen, „der, ehrfürchtig den Staat anbetend, seine Existenz sichert und sein ganzes Leben organisiert“: den Homo sovieticus. So konnte man das anscheinend auch sehen.
Jenes paradoxe Verhalten, erst frenetisch nach der sozialen Marktwirtschaft zuverlangen und, nachdem sie da ist, sich einer überspannten Sehnsucht nach der einstigen, dürftigen Schein-Idylle der DDR zu überlassen, wurde in den frühen neunziger Jahren als eine ostdeutsche Gegenwartsverweigerung interpretiert und ließ helle Empörung aufflammen. Ostalgie war ein anderes Wort für Undankbarkeit.
War es wirklich nur das? Der krasse Wandel aller Lebensumstände evozierte im Osten Deutschlands und wohl überhaupt im Osten Europas eine Inflation des Neuen. Wer um das Jahr 1995 herum Städte in Sachsen, Thüringen oder Mecklenburg-Vorpommern in Abstand von Monaten oder gar Jahren besuchte, erkannte sie nicht wieder. Immer neue und wieder erneuerte Autobahnen mit immer wachsenden Verkehrsströmen. Die trendigsten Kommunikationsmittel. Die Ruinen der DDR planiert, der Dreck des Sozialismus fortgekehrt. Buchstäblich war die Hardware einer Epoche – in Gestalt halb verfallener Urbanität – weggerafft worden.
Meine Kindheitserinnerungen, zum Beispiel an das zerstörte Dresden und die glorreiche Vergangenheit, liefen plötzlich rückwärts ab. Die Ur-Vergangenheit, das Deutschland vor 1945, ja vor 1933 erstand, während die Wirklichkeit von gestern, jene der ungeliebten DDR, übersprungen ward. Grauer Rauputz, Sprelacartwände, Dederon-Gardinen, der Gestank von Auspuffgasen und verbrannter Braunkohle, das war nicht schön, aber es bildete doch die wenn auch triste Aura eines Lebens, das siebzehn Millionen oftmals unfreiwillig aber doch mit Würde und einem kleinen Glück gelebt und vor inzwischen knapp dreißig Jahren hastig abgebrochen hatten, ohne dass es verarbeitet und tatsächlich zu Ende war.
Seitdem herrscht der Terror der Zeit. Zunächst kam der Druck der Anpassung, der ungewohnte Mangel an Gewissheiten, gefolgt von einander jagenden Nachrichten über einen ultimativ bedrohten Planeten, über Terror und Krieg, schließlich der wohlgemeinte Aufruf, Migranten und Flüchtlinge willkommen zu heißen.
Und anderes mehr. Keiner hatte sich so die Zukunft vorgestellt (auch nicht im anderen Teil des Landes), eine Zukunft, die inzwischen eine beschleunigte und zugleich stillstehende Gegenwart zu sein scheint. Verschwindigkeit, so könnte man das Phänomen dieser Verluste beschreiben.
In Nostalghia erzählt Andrej Tarkowskij die Geschichte des leibeigenen russischen Komponisten Sosnowskij. Dieser Leibeigene wurde von seinem Gutsbesitzer zum Studium nach Italien geschickt, wo er sich jahrelang aufhielt und mit großen Erfolg Konzerte gab. Selbst dieser Erfolg rettete ihn nicht vor der Nostalgie. Der Mann wird von Heimweh verzehrt. Er entschließt sich, in seine Leibeigenschaft nach Russland zurückzukehren, wo er sich kurz darauf erhängt. Tarkowskij spricht von den Russen als schlechten Migranten und einer tragischen Unfähigkeit zur Assimilation.
Heute wissen wir, dass dies nicht nur auf Russen zutrifft. Und die Verwirrung von Auswanderern auf unvermutete Weise auch jene treffen kann, die zu Hause bleiben. Migranten begeben sich in der Regel auf eine Reise, deren Ziel die Fremde ist. Zu den Ostdeutschen ist diese Fremde mit der Einheit und dem Aufbau Ost gekommen. „Auf der Stelle“, in der eigenen Stadt, im Zuhause, wurde Migrant, wer geblieben war und bleiben wollte.
Heidegger verstand Zeit als „Abfolge des Jetzt“. Sie wird zum Terror, wenn wir mit dieser Abfolge nicht Schritt halten können. Knapp dreißig Jahre nach der Gründung eines neuen Deutschlands scheint mir, Viele seien bereits hinter dem „Jetzt“ zurückgeblieben.
Ich bin kein Dresdner, kein Einheimischer. Eher ein Keinheimischer. Mit dem unvorhersehbaren Reiseplan der Nomaden. Stolz überkommt mich bei dieser Feststellung nicht. Eher ein bisschen Dankbarkeit, und, ja, Nostalgie.
Nun will Dresden werden, was es ist: eine europäische Kulturhauptstadt. Die Veranstalter in Brüssel gewähren noch ein paar Monate, bis die Bewerbung eingereicht werden muss, und ein paar Jahre für die eventuelle Vorbereitung. Doch droht auch in dieser Sache eine Zeitschmelze. Das, was jede Bewerberin auf dem Weg an den Zeit-Ort „2025“ beschäftigen wird, ist die veloziferische Abfolge des Jetzt. Wo sind heute die Themen, die Ängste, die Hoffnungen von morgen, die wir gestern sahen?
Der Geist der Zeit ist tiefer, als der Zeitgeist denkt. Wer über fünfzig Jahre aus neugieriger Ferne das Leben in dieser Stadt mit Sympathie verfolgt hat, lernt, dass das Auf und Ab ihrer Geschichte, Elend und Glanz, Heimat und Fremde, Vergangenheit und Zukunft nur gemeinsam angenommen werden können. Es gibt kein Entweder-Oder. Kultur ist Zeit haben. Für die Konflikte des Daseins, für das Mysterium des Menschen. Sei er nun gläsern oder romantisch.