Lecture Series on Global Culture / Was ist globale Kultur? 6. Kapitel
Die russische Hauptstadt, mit der wir uns im letzten Kapitel beschaeftigt haben, loest sich allmaehlich und im Kontext schwerer sozialer Auseinandersetzungen aus ihrer postkommunistischen Isolation. Dies geschieht, wie wir gesehen haben, dank der modernen Formen internationaler Protestkultur und den Techniken der sozialen Netzwerke. Beides, Protestkultur und soziale Netzwerke, foerdern die Produktion und Verbreitung von globaler Kultur, sind ihrer Natur nach globale Informationstraeger. Doch gibt es nach wie vor Orte, oftmals politische Exklaven, die gegen die Globalisierung heftig Widerstand leisten. Wenn wir uns fragen, was globale Kultur ist, wie sie sich ausbreitet, wie sie entsteht und produziert wird, dann sind solche Orte ebenfalls interessant. Wie ein Roentgenbild den sichtbaren Koerper durchdringt, gewissermassen aus dem Blickfeld raeumt und zugleich fuer das blosse Auge unsichtbare Phaenomene aufspuert, demonstriert der Blick auf eine nichtglobalisierte Gesellschaft die enorme Rolle, die die kulturelle Globalisierung in unserem Alltag spielt, und zwar gerade dadurch, dass sie in diesen Laendern abwesend ist.
Stellvertretend wollen wir hier zwei unterschiedliche, aber gleichermassen radikale Beispiele anschauen. In beiden Faellen ist bzw. war die bisherige kulturelle (und politische) Isolation das Ergebnis einer Diktatur. In beiden Faellen handelt es sich ausserdem um Staaten, die sich in unmittelbarer Nachbarschaft zu China befinden, jenem Land, das politische Isolation und kulturelle Globalisierung in paradoxer Gleichzeitigkeit betreibt.
Unser Blick auf Nordkorea geht zunaechst durch die Nacht. Wir sehen ein schwarzes Territorium. Es mag vereinfachend klingen, aber diese Aufnahme zeigt auch, dass Globalisierung Licht bedeutet. Nordkorea ist der kommunistische Teil eines seit ueber sechzig Jahren geteilten Landes, dessen suedlicher Staat bekanntlich heute zu den fortgeschrittensten kapitalistischen Gesellschaften Asiens zaehlt. Der Frieden zwischen beiden Laendern ist nur durch einen Waffenstillstand gesichert, der von der UN-Truppen ueberwacht wird. Immer wieder kommt es zu Grenzkonflikten. Hinter den koreanischen Kontrahenten stehen im Norden die ehemaligen Alliierten Russland und China, im Sueden die USA und Japan.
Die Geschichte des Landes ist von einem Fuehrerkult ueberschattet, der seit drei Generationen bizarre Blueten treibt. Auf den Geliebten Fuehrer Kim Il Sung folgte der Teure Fuehrer Kim Jong Il. Inzwischen sorgt der dreissigjaehrige Enkel mit seinen Drohungen eines Nuklearschlags gegen Suedkorea und die USA fuer aussenpolitische Turbulenzen.
Die Staats-Ideologie des „Juche“ warnt die Nordkoreaner vor dem Umgang mit dem Feind. Beipielsweise ist jeder Auslaender ein potentieller Feind. Juche stilisiert die Partei und speziell den Fuehrer zu einem religioesen Beschuetzer vor allem Uebel der Welt. Die Menschen werden in Angst und Misstrauen gehalten. Da das Land nach den totalen Zerstoerungen des Koreakrieges zwischen den fuenfziger und siebziger Jahren voellig neu aufgebaut werden musste, wurden sowjetische und ostdeutsche Ingenieure herangezogen. Die Staedte Nordkoreas muten deshalb wie der sonst ueberall untergegangene Traum der sozialistischen Moderne an. Das oeffentliche Leben von Pjoengjang gemahnt an die Visionen von George Orwells „1984“. Ueber die Strassen und Plaetze ziehen die letzten Menschen eines ansonsten weltweit aufgegeben sozialen Experiments. Viele von ihnen tragen Uniformen. Wie im China der Mao-Zeit sind fuer Frauen bestimmte Frisuren vorgeschrieben.
Von den bruechigen Fassaden und von knallbunten Fresken gruessen in absurder Heiterkeit die Fuehrer. Die Metro, obwohl erst in den Achtzigerjahren erbaut, erinnert an die Prunkbahnhoefe, die Josef Stalin fuenfzig Jahre zuvor in Moskau errichten liess. Diese Folie zeigt den Anschlag der einzigen Tageszeitung. Nordkoreas Propaganda bedient sich einer kleinen Zahl allgegenwaertiger Massenmedien. Westliche Informationsquellen dringen hier nicht ein. Man muss davon ausgehen, dass der Durchschnitts-Nordkoreaner ueber die Welt ausserhalb der Landesgrenzen nur durch die einheimische Propaganda erfaehrt. Dadurch wird verhindert, dass die Menschen eine Vorstellung von ihrer Knechtschaft bekommen. Kurioserweise stammen die Metro-Zuege aus dem Depot ausrangierter U-Bahnen des damaligen Westberlin.
Auch wenn wir ueber die Zeit des kommunistischen Weltsystems nicht als die einer Globalisierung sprechen, wirkt Nordkoreas oeffentlicher Raum wie eine gespenstische Requisite globaler Kultur aus der Epoche des Kalten Krieges.
Tatsaechlich ist dieser Krieg fuer Nordkorea nicht zu Ende. Partei und Fuehrer schwoeren das „Volk“ auf einen Endkampf ein, in dem der Gegner immer mehr zu einer abstrakten Groesse wird. Selbst im laendlichen Raum stoesst man ueberall auf grossflaechige Plakate, deren heroische Rhetorik an die Zeit des Stalinismus erinnert. Die „Militaer zuerst!“-Politik, durch welche Nordkorea praktisch in einen Militarstaat umgewandelt worden ist, beginnt in der Schule. Hier sehen wir die Wandzeitung im Klassenzimmer einer Kolchose. Die Kinder sind in eine Panzer-, eine Flieger- und eine Bomber-Brigade eingeteilt.
Doch seit zwanzig Jahren ist Nordkorea ein nahezu isoliertes Land. Nur wenige Dutzend Auslaender halten sich dort staendig auf, meist Vertreter internationaler Organisationen. Viele westliche Staaten haben nicht einmal eine diplomatische Vertretung. Am Flughafen Pjoengjang kommt taeglich ein einziges Flugzeug aus Beijing an, um am selben Tag dorthin zurueckzukehren.
Die Abgrenzung verschaerfte sich mit dem Zusammenbruch von Nordkoreas wichtigstem Alliierten, der Sowjetunion. Das Wirtschaftsprodukt des Landes liegt noch heute unter dem von 1992, dem Jahr, als die Sowjetunion aufgeloest wurde. Wer durch das Land reist, stoesst auf stillgelegte Inustrieanlagen und tote Autobahnen. Diese Infrastrukturen deuten darauf hin, dass Nordkorea einmal auf dem Weg in eine moderne Gesellschaft gewesen ist. Doch inzwischen hat das Land buchstaeblich keine Energie mehr. Nach Sonnenuntergang tauchen Stadt und Kolchose rasch ins Dunkel. Auf dem Lande spielen sich spukhafte Szenen mittelalterlicher Idyllik ab. Die Menschen arbeiten fast immer und ausschliesslich mit ihren Haenden. Die Abwesenheit jeglicher Umweltverschmutzung taucht Landschaften in die absurde Magie eines unberuehrten Naturparadieses. Zugleich herrscht weitverbeitet Hunger. Internationale Organisationen gehen davon aus, dass vierzig Prozent der Bevoelkerung unterernaehrt sind.
Doch auch in Nordkorea gibt es einige wenige Anzeichen globalen Einflusses. Die ersten westlichen Limousinen deuten auf das Entstehen einer Oberschicht hin. Zu den gigantischen Gymnastikshows auf oeffentlichen Plaetzen und in Stadien wird Licht- und Tontechnik von Sennheiser & Co eingesetzt. Versteckt in einem Wohnblock der Innenstadt gibt es sogar so etwas wie ein Fast-Food-Restaurant.
Es ist vermutlich der maechtige Nachbar China, der bei der heimlich—unheimlichen Transformation Nordkoreas eine entscheidende Rolle spielt. Die Volksrepublik leistet nicht nur Wirtschaftshilfe. Seit die internationale Staatengemeinschaft Embargos ueber das Land verhaengt hat, nutzt der chinesische Staat wahrscheinlich die geografische wie die kulturelle Naehe, um unter dem Radar der Weltoeffentlichkeit das Land unter seinen Einfluss zu bringen. Chinesen koennen sich in Korea gut verstaendigen und fallen nicht auf. Moeglicherwise entsteht bereits eine chinesische Schattenwirtschaft. Das punktuelle Auftauchen von moderner Technologie, Wohlstand und Popkultur laesst erahnen, dass liberalere Kreise in der nordkoreanischen Fuehrung einen chinesischen Weg anstreben.
Doch vorlaeufig markiert die Grenze zwischen Nord- und Suedkorea den letzten Todesstreifen des Kalten Krieges. Beide Seiten wuenschen sich die Wiedervereinigung, beide Seiten jedoch auf der Grundlage einer bedingungslosen Kapitulation der anderen. Man bewirft die Grenzregion der jeweils gegnerischen Seite regelmaessig mit Propagandamaterial, dessen Rhetorik an den zweiten Weltkrieg in Europa erinnert. Hin und wieder kommt es auch zu einem Schusswechsel.
Unmittelbar vor dem Tor zu diesem nordkoreanischen Grenzposten weist ein Strassenschild darauf hin, dass es von hier aus 70 km nach Seoul sind. Siebzig Kilometer koennen unendlich sein. Seoul ist heute eine der groessten und pulsierendsten Staedte Asiens. Der Stadtteil Gangnam ist seit dem Mega-Video-Hit von Psi weltweites Symbol fuer eine neue Phase in der Popkultur. Die Unterschiede zwischen dem erschoepften Norden und dem kraftstrotzenden Sueden koennten nicht groesser sein. Nicht nur das Wirtschaftsprodukt hat sich unterschiedlich entwickelt, sondern auch die Physis der Menschen. Suedkoreaner sind heute zwischen 3 und 8 cm groesser als ihre Landsleute im Norden.
Es ist schwer vorstellbar, was eines Tages passieren wird, wenn sich die Grenze zwischen den beiden Landesteilen oeffnet. Mit Sicherheit aber geht das isolierte Nordkorea einem Schock globaler Kultur entgegen.
Unser zweites Beispiel fuehrt in die geografisch entgegengesetzte, suedwestliche Grenzregion der VR China, nach Myanmar. Auch dieses Land wird seit sechzig Jahren von einer Militaerdiktatur regiert, die allerdings in den letzten beiden Jahren ernste Anstrengungen zur politischen und wirtschaftlichen Oeffnung unternommen hat. Myanmars Geografie ist der Grund fuer seine Vielfalt: Es hat Anteil an verschiedenen Klimazonen von den Grenzen des Himalaja bis an den Indischen Ozean, liegt zwischen den grossen Kulturen Indiens, Thailands und Chinas, hat daher selbst eine tausendjaehrige Kulturgeschichte und wird bewohnt von Menschen sehr unterschiedlicher Ethnien und Glaubensrichtungen.
Obwohl das Militaer in Myanmar weniger drakonisch geherrscht hat als in Nordkorea, haben politische Repression und internationales Embargo auch in Myanmars Gesellschaft tiefe Spuren hinterlassen. Myanmar ist heute eines der aermsten Laender Asiens und damit der Welt. Zugleich erinnert insbesondere die Verlagerung der Regierung aus der alten Hauptstadt Yangun, die auch das religioese Zentrum des Landes beherbergt, in eine Retortenstadt giganischen Ausmasses an die Megalomanie eines Ceausescu oder Kim Il Sung. Inzwischen oeffnet sich das Land. Die Oppositionsbewegung wird von einer prominenten Figur, der Friedensnobelreistraegerin Aung San Suu Kyi, angefuehrt. Vor allem die Kulturstaetten und Kuesten des Suedens werden von Touristen bevoelkert. In Yangun fliegt das internationale Business ein.
Doch die Diversitaet des Landes erweist sich als eine massive Herausforderung fuer seine Modernisierung. Vor allem die Minderheiten des bergigen und schwach besiedelten Nordens sorgen fuer anhaltende Unruhe. Die Bauern der Katschin (EN: Kachin) verteidigen mit Partisanengewalt ihren Opiumanbau. Doch geht es auch um politische Autonomie. Die Katschin- und Shanvoelker des Nordens sprechen kein Burmesisch. Ihr Schamanentum steht dem Buddhismus fern. Sie sind Isolierte im eigenen Land.
Diese Folien zeigen Aufnahmen aus dem Staat Nord Shan. Die Menschen leben hier in derselben primitiven Weise wie vor Hunderten von Jahren. Inzwischen werden sie beim Reisanbau, der Wasserversorgung oder dem Kampf gegen Malaria von internationalen Organisationen wie hier der Deutschen Welthungerhilfe unterstuetzt. Die Welthungerhilfe fuehrt auch Ausbildungsprogramme durch, um die Bauern bei der Organisation ihrer Dorfwirtschaft zu unterstuetzen.
Dies alles ist umso wichtiger geworden, da seit einigen Jahren chinesische Haendler aus den angrenzenden Regionen durchs Land ziehen. Diese Haendler warten bis zum Ende der Regenzeit im Fuehjahr, wenn Kleinbauern ihre letzten Reisreserven verzehren, und verkaufen diesen Leuten dann zu Wucherzinsen von 100 Prozent an beduerftige Familien jene Rationen, die sie zur Ueberbrueckung bis zur naechsten Ernte benoetigen, um keinen Hunger zu leiden.
Die Experten der Welthungerhilfe haben die Bauern von der Nuetzlichkeit einer Reisbank ueberzeugt. Sie ist das Instrument einer wirtschaftlichen Autonomie. Jeder Haushalt hinterlegt einen Teil seiner Ernte in einem Reservoir, das von der Dorfgemeinschaft verwaltet wird. Beduerftige werden aus diesem Speicher versorgt und muessen sich nicht an chinesische Haendler wenden. Auf dieser Folie sehen wir die Dorfkasse der Reisbank mit den Einnahmen aus dem dorfinternen Reisverkauf. Diese Einnahmen werden zur Verbesserung der Infrastruktur wie zum Beispiel der Anlage eines Brunnens verwendet.
Doch der chinesische Einfluss ist nicht zurueckzudraengen. In Lashio, der Hauptstadt der Region, sieht man auf dem Markt chinesische Waren, in den Kneipen chinesische Werbung und in den Wohnungen chinesisches Fernsehen. Burma und seine Militaerdiktatur scheinen hier weit weg zu sein. Zumindestens der Norden des Landes ist kulturell wie wirtschaftlich laengst von dem maechtigen Nachbarn abhaengig.
Waehrend die Bauern ohne Elektrizitaet und mit Ochsenkarren und ihren eigenen Haenden die muehselige Feldarbeit verrichten, verlegen chinesische Ingenieure nebenan mit modernster Technik eine Pipeline quer durchs Land. Durch diese Rohre wird das vor der Kueste Myanmars gefoerderte Erdoel einst nach China fliessen. Die Strategen der Volksrepublik sichern sich ihre Rohstoffreserven in der gesamten Region.
Stellt man sich Myanmar, ein sechzig Jahre von internationalen Entwicklungen abgeschnittenes Land, in der naeheren Zukunft vor, dann erscheint die Version einer erweiterten chinesischen Einflusszone am wahrscheinlichsten. Dies gilt insbesondere fuer den autonomiebeduerftigen Norden. Wie in Nordkorea nutzt das Reich der Mitte seine kulturelle und geografische Naehe, um eine starke und stabile Interessenssphaere zu etablieren. Myanmar erhaelt die bunte Warenwelt der globalen Kultur in erster Linie aus den Haenden der Chinesen. Seine juengere Geschichte beschreibt die Transformation eines ruralen Landes in eine Volkswirtschaft, die mit Tourismus, kostenguenstigen Dienstleistungen und Produktionsstandorten um ihre Position in der asiatischen Turbine der Globalisierung ringen wird. Das Eindringen globaler Kultur und moderner Technologie wird die baeuerlichen Gemeinschaften des Nordens vor Zerreissproben stellen. Sie ermoeglicht jedoch den Bauern in Zukunft jedoch auch den Zugang zur Aussenwelt und eine aktive Auseinandersetzung mit sowohl burmesischen als auch chinesischen Kulturkontexten.
Zwei Beispiele nichtglobalisierter Gesellschaften an der Schwelle zur offenen, global vernetzten Welt des 21. Jahrhunderts. In beiden Faellen wird zu beobachten sein, ob der naechste Schritt in eine moderne und gerechtere Gesellschaft fuehren wird oder nicht. Globale Kultur erweist sich als ein zweischneidiges Schwert. Je nachdem, wer es handhaben wird, kann es die Neugestaltung nationaler Identitaet unterstuetzen oder die bestehende ausloeschen.