Leute von Lavapolis
Lavapolis, „weiter entfernt im tiefen mediterranen Graben zwischen den Kuesten Kretas, Siziliens und der libyschen Kueste als irgendein Eiland“, wird von Menschen bewohnt und besucht, die sich freiwillig einem sozialen Experiment aussetzen. Einige von ihnen kommen hier erstmals zu Wort. Friday, der im Mai Staedte auf dem Kontinent besuchen wird, ist einer von ihnen.
FRIDAY, 32, illegaler Inselbewohner unbekannter Herkunft, Mitglied einer Aktivisten-Gruppe
Gefunden haben wir uns im Netz. Irgendwann haben ein paar Leute beschlossen, auf die Insel zu gehen. Illegal natuerlich. Temporaer. Vermutlich sind wir inzwischen ueberall illegal und temporaer. Ich war der Erste hier. Es ist nicht wichtig, wo ich herkomme, aber ich kenne mich in der Region ganz gut aus. Schon als Kind bin ich ein paar Mal in Bari, Italien, gewesen. Von Bari aus sieht Europa wie ein fremder Planet aus. In den Koepfen von Deutschen oder Hollaendern gilt der Sueden schon lange als abgemeldet. Keine Produktivkraft, wahnsinnige Arbeitslosigkeit, geringer Bildungsstand. Korruption und soziale Vormoderne. Der gesamte mediterrane Raum ein Lager von Globalisierungsverlierern.
PADMA, 39, seit vielen Jahren Inselbuergerin indischer Abstammung, Mutter von zwei Soehnen, Abteilungsleiterin im Sozialfonds der Regierung
Meine geliebte Mutter hat mir in Aluva, Kerala, das Leben geschenkt. Ich habe zwei Brueder und zwei Schwestern, die alle mit ihren Familien ganz in der Naehe unserer verehrten Eltern wohnen. Nur ich bin ausgezogen. Aluva ist heute ein Vorort der Hauptstadt Kochi. Er ist in Indien sehr beruehmt wegen des Tempels, in dem das Gift Halahala aufbewahrt worden ist. Das Gift war in Duensten vom Meer aufgestiegen, sodass weder die Devas noch die Asuras vom Amrit trinken konnten. Amrit, das ist der Nektar des ewigen Lebens. Devas und Asuras starben. Aber dann hat Shiva das Gift getrunken und in seinem Mund nach Aluva gebracht. Deshalb heisst es bei uns: Wer Amrit trinken will, muss erst Gift schlucken…
Meine Eltern lieben ihre Kinder ueber alles und haben dafuer gesorgt, dass wir eine gute Ausbildung bekamen. Natuerlich waren sie stolz auf meine Promotion nach Kochi. Als ich drei Jahre spaeter das Angebot bekam, fuer die Bank auf die Insel zu gehen, hatten sie ein bisschen Angst um mich. Jeder in Kerala weiss, es ist das Beste fuer junge Leute, nach ihrem Schluck Amrit woanders zu suchen. Von der Insel hatte man damals aber noch so gut wie nichts gehoert. Sie haetten mich lieber in Bombay gesehen oder am Golf.
FRIDAY
Damals habe ich in diesem Lager manchmal die Sommerferien verbracht. Schraeg war das schon. Der Laptop hatte zum Beispiel seinen Weg noch nicht nach Apulien gefunden. Internet kannten sie vom Hoerensagen. Einheimische traf man am Strand nur zum Wochenende, dann aber in laermenden Scharen. Viele konnten nicht mal schwimmen. Weil kaum jemand Englisch sprach, musste ich also Italienisch sprechen. Das war schon was.
Als ich ein paar Jahre aelter war, habe ich zusammen mit Freunden ab und zu die Faehre nach Patra genommen und bin durch Albanien und Griechenland getrampt. Einmal waren wir sogar auf der Insel. Jemand hatte von den Casinos erzaehlt und dem riesigen Flughafen. Ich fand das damals alles ziemlich bizarr im Vergleich zu den kleinen schneeweissen Doerfern auf den anderen Inseln und den Pennern in Bari. Trotzdem hat sich da ein Gedanke bei mir eingenistet: irgendwann zurueckzukehren und zu sehen, was aus den Casinos und dem Flughafen geworden ist.
ALBERTO, 56, inselgebuertig, Direktor des Departements fuer Strategische Planung der Regierung Faidon Messinis
Alle Bewohner der Insel sind mit VideoPods ausgestattet. Unsere Buerger haben es in der Hand, sich durch dieses Geraet in der Agora zu engagieren. Sie koennen von jedem Terminal der Agora aus jeden Buerger ueber sein VideoPod kontaktieren. Nimmt er Ihre Anfrage an, dann akzeptiert er automatisch, dass der Kontakt im Archiv der Agora gespeichert wird…
Jeder beteiligt sich an der Erweiterung der Menschensammlung. Das macht sie zu einem Kunstwerk. Wenn Sie wollen, haben wir potentiell sechshunderttausend Kuratoren, die eine Sammlung von sechshunderttausend menschlichen Subjekten verwalten und bereichern. Nicht mehr und nicht weniger… Jeder ist Kuenstler, Kurator, Publikum. Jeder erzaehlt Geschichten und ist zugleich Gegenstand der Geschichte. Wir haben nichts gegen professionelle Kunst. Auch sie hat in unserem Archiv ihren Platz. Ihre Schoepfer gehoeren zur Community der Agora wie jeder andere. Aber das ist auch alles. Wir teilen nicht die Ueberzeugung, Kuenstler haetten ueber uns und die Welt wichtigere Dinge zu sagen als andere, zum Beispiel als wir selbst. Sie haben eine Stimme, aber es ist die Stimme Einzelner. Was fuer uns zaehlt, ist das Kollektiv. Sind die Buerger. Ihre Geschichten, ihre Objekte. – Ich bin bei der wichtigsten Funktion der Universal-Agora angekommen. Sie befreit das Individuum vom Zwang, aus beruflichen, materiellen, religioesen oder sonstigen Gruenden entweder Produzent oder Konsument zu sein. Sie loest den Widerspruch auf zwischen Kunst und Leben. Was Sie hier sehen, ist die Insel zugleich als Fiktion und als Wirklichkeit…
DASHA, 43, seit fuenf Jahren Inselbewohnerin russisch-juedischer Herkunft, Mutter eines 14-jaehrigen Sohns, arbeitet bei der Einwanderungsbehoerde
Im Buero nennen sie mich Strelka. In den ersten Monaten bin ich durch die Gegend gerannt, als haette ich meine Geldboerse verloren. Dabei wollte ich nur so schnell wie moeglich unser neues Leben organisieren. Meine Chefin hat mich irgendwann gefragt, was Pfeil auf Russisch bedeute. Na, Strelka, habe ich ihr geantwortet. Da hatte ich meinen Spitznamen weg. Weil ich wie ein Pfeil durchs Buero geschossen bin.
Das hat sich mit der Zeit gelegt. Der Spitzname ist geblieben, ohne dass sich noch jemand viel dabei denkt. Von mir abgesehen. Denn mir ist spaeter die Huendin eingefallen, welche vor langer Zeit zu Versuchszwecken in den Weltraum geschossen worden ist. In der Sowjetunion, die mal mein Zuhause war. Diese Huendin hiess auch Strelka. Sie war nicht der erste Hund im All. Aber der erste, der lebend zurueckgekommen ist. Vielleicht hat Strelka ueberlebt, weil man sie nicht hat allein fliegen lassen. Mit ihr in der Metallkapsel, dem Sputnik, war naemlich ein zweiter Hund, Belka. Ausserdem ein Kaninchen, Maeuse, Ratten und wer weiss was noch. Na, eine echte Arche Strelka ist dieser Sputnik gewesen…
Vielleicht stimmt das ja mit meinem Spitznamen, und ich bin auch so eine Versuchshuendin. Nur habe ich mich selbst abgeschossen. Die erste Expedition ging nach Israel, die zweite nach Oesterreich, die dritte hierher.
FRIDAY
Niemand glaubt mehr an eine Zukunft. Das ist eine Krankheit, eine Seuche. Man koennte sagen, wir haben uns vor dieser Seuche auf der Insel in Sicherheit gebracht. Einige pendeln zum Festland, andere haben ihre Bude auf der Insel. Hin und wieder kehren wir fuer eine Aktion zurueck in die Staedte, aus denen wir fortgegangen sind. Meistens operieren wir aber im Netz.
STASCHA, 41, seit kurzem Inselbesucher, Brite mazedonischer Abstammung, Journalist
Ich war reif fuer die Insel. Ich stieg in ein Flugzeug einer durch Preisdumping so erfolgreichen Airline und landete in einem Paradies, keine hundertneunzig nautische Meilen westlich griechischer Hoheitsgewaesser. Ich wollte es wissen.
Und hier bin ich also: Noch ein bisschen wackelig auf den Beinen wegen der notorisch engen Sitzreihen, noch leicht irritiert durch das anzeigengerecht gleissende Sonnenlicht. Aber Denken laesst sich weder unterdruecken, noch korrumpieren. Der kritische Blick, ohne den ich nicht Ich waere, kehrt zurueck.
Waehrend drueben in Athen und Heraklion Tausende vor oeffentlichen Suppenkuechen Schlange stehen, faellt mir ein, Menschen mit Transparenten vor dem Bauch um jeden sich bietenden Job werben und Kinder vor Hunger die Schule nicht besuchen koennen, waten hier internationale Kolonien von High-End-Touristen durch den goldenen Sand von Leisure City, fit gehalten von Moet Chandon-Erfrischungen und Thai-Massagen, ehe sie mit der gemieteten Yacht zu einer Kreuzfahrt durch die immer noch sonnenbeguenstigten Archipele des suedeuropaeischen Wirtschaftselends aufbrechen oder sich zu einer laessigen Partie Baccarat ins hoteleigene Casino zurueckziehen… Irgendwas wuergt im Hals.
FAIDON, 69, derzeitiger Fuerst der Insel und STASCHA
F Ich stelle Ihnen ein Raetsel. – Ein Bauer hinterlaesst nach seinem Tod siebzehn Pferde und ein Testament, in welchem er seinen drei Soehnen das Erbe nach folgendem Schluessel zuteilt: Der erste Sohn bekommt die Haelfte, der zweite ein Drittel und der juengste ein Neuntel der Pferde. – Finden Sie die Loesung!
S Ich vemute eine Finte.
F Da tun Sie dem Toten Unrecht. Wir beide wissen, dass man siebzehn Pferde nicht ohne Gemetzel in Haelften oder Drittel teilen kann. Sehen Sie, auf dem Lande sprechen die Leute miteinander ueber ihre Probleme. Die drei Brueder suchen also Rat bei einem Nachbarn. Schliesslich hat der Nachbar eine Idee. Er leiht den Bruedern eines seiner eigenen Pferde. Nun haben sie achtzehn. Wunderbarerweise funktioniert jetzt der Schluessel: Der Aelteste bekommt neun, der Mittlere sechs und der Benjamin drei der Tiere. Und um das Wunder zu vergroessern, bleibt sogar das Pferd uebrig, das ihnen der Nachbar verliehen hat.
S Zurueck zu den Menschen auf Ihrer Insel.
F Ich bin bei ihnen, Stascha. Ich fuerchte, der Aussenwelt geht es wie Ihnen, sie loest das Raetsel nicht. Anstatt ein Pferd auszuleihen, wird nach und nach das Erbe abgeschlachtet. Wehe, die Transaktion rechnet sich nicht! – Nun, fuer den Nachbarn rechnet sich die Transaktion nicht sonderlich. Er verliert zwar nichts, gewinnt aber ebenso wenig. Warum hilft er also? Weil er eben ein Nachbar ist, und sich Nachbarn auf dem Lande in der Regel helfen. Wir sind zwar nicht auf dem Lande, aber wir bauen mit viel volkswirtschaftlicher Expertise eine unprofitable Wirtschaftszone auf. Wir leihen Leuten, die ein Projekt haben, Pferde, damit sie ihr Projekt durchfuehren koennen. Wenn alles gut geht, kriegen wir das Pferd zurueck. Sie kennen die unprofitable Wirtschaftszone unter der Bezeichnung Sozialfond. Die Aussenwelt hat den Glauben an die Notwendigkeit solcher Zonen aufgegeben. Sehen Sie, darin liegt unsere Chance. Die Gesellschaft, die uns vorschwebt, ist nicht gewinnbringender, sondern schlicht menschlicher als andere. Wir geben eine Menge Geld aus fuer Kunst und Kultur, fuer internationale Hilfsprojekte, fuer junge Leute, die erstaunliche Ideen haben, und wir fragen nicht nach unserem Gewinn. Wir ermoeglichen das bei Ihnen zu Hause inzwischen unvorstellbar gewordene Leben in einer sozialen Welt.
DIAMANTIS, einer der ersten Siedler auf der Insel und unter dem ersten Fuersten, Theodore Messinis, maßgeblich am Aufbau der lokalen Wirtschaft beteiligt
Vielleicht ahnen Sie inzwischen, worauf ich hinaus will. Ich bin jetzt hundertdrei Jahre alt. Einige der Freunde kommen nach wie vor zum Dominospielen. Iosif ist sogar zwei Jahre aelter als ich. Ich wundere mich ueber nichts mehr… Wir haben einfach vergessen zu sterben.