Teenage Dream
Er hatte kupferfarbenes straehniges Haar, das ihm bis auf die schmalen Schultern fiel. Unter den feucht hervortretenden Augaepfeln, deretwegen er immer wie erstaunt aussah, lag ein breiter violetter Schatten. Eine millimeterbreite Zahnluecke trennte die oberen beiden Schneidezaehne, von denen einer schraeg abgebrochen war, sodass er, wenn er den Mund aufmachte, wie seine Grossmutter aussah. Sein buergerlicher Name war Martin Beutler, aber der spielte anfangs keine Rolle, denn man nannte ihn T.Rex. Obwohl er zwei Jahre aelter war und der fuer mich unerreichbaren Oberstufe angehoerte, war mir nicht verborgen geblieben, dass man sich gerne ueber ihn lustig machte und er das sogar zu geniessen schien. Zog man ihm auf dem Schulhof auf, spielte er gerne den Clown.
Fuer seinen Spitznamen gab es aber einen anderen Grund. Es hatte grosse Aufregung gegeben, weil jemand das Leninfoto auf einer Wandzeitung mit einem Bild von Marc Bolan, dem Saenger der Band T.Rex, ueberklebt hatte. Als die Blasphemie entdeckt worden war, wurden wir klassenweise auf dem Hof zusammentrommelt und vom Direktor kollektiv ins Verhoer genommen. Der Direktor bruellte mit blau angelaufenen Lippen, man werde den Attentaeter auf den Fuehrer der Roten Oktoberrevolution von der Schule entfernen und dessen Eltern zur Verantwortung ziehen. Der Klassenlehrer und zwei seiner Kollegen untersuchten inzwischen unsere auf den Schreibtischen ausgebreiteten Schulsachen. Viele von uns hatten sich die Haare tief in die Stirn gekaemmt und guckten so gelangweilt wie moeglich.
Der Taeter wurde nicht ausfindig gemacht, aber Martin hiess ploetzlich T.Rex, und einem Geruecht zufolge hatte er sich einen Ersatzschluessel fuer das Schulhaus besorgt, um eines Nachts kurz nach Lenins Geburtstag das Foto zu ueberkleben.
Er redete mich zum ersten Mal vor dem Eingang ins Musikzimmer an, in dem an diesem spaeten Samstagnachmittag eine Schuldisko stattfand. Diese von einem FDJ-Sekretaer der obersten Klasse veranstalteten „Tanzveranstaltungen“, zu denen zu mindestens siebzig Prozent DDR-Rock gespielt werden musste und sich kaum jemand auf die Tanzflaeche wagte, bevor irgendein Witzbold das Licht abdrehte, waren fuer die meisten, die selbst noch keine Zigaretten kaufen konnten, eine Gelegenheit, eine Schachtel F6 gegen zum Beispiel einen Aufkleber oder Poster mit Jimi Hendrix oder Udo Lindenberg zu erwerben. Ich hatte weder Zigaretten noch Poster, aber T.Rex hatte gehoert, ich haette eine Get It On-Single aus dem Westen bekommen und wuerde die unter Freunden ausleihen. Ich wusste, das war riskant, denn ich konnte mit der Schule Aerger bekommen, und die Platte konnte kaputt gehen. T.Rex interessierte das jedenfalls, und weil mit der Disko sowieso nichts los war, begleitete ich ihn zu sich nach Hause.
Er wohnte bei seiner Grossmutter in einer Art Hexenhaeuschen, in dem man sich sogar als Fuenfzehnjaehriger auf der Stiege den Kopf anstossen konnte und das mit dem Ruecken zu einem Kalkfelsen stand, der bedrohlich weit ueber das Dach ragte, und es sah ein bisschen danach aus, als wuerde der Felsen die Bude im naechsten Moment unter sich begraben.
T.Rex hauste in zwei dunklen und feuchten Zimmern im oberen Stock, die Grossmutter, die bei jedem Besuch misstrauisch an die Tuer kam und ihn manchmal mit knotiger Stimme zurechtwies, er solle keine Fremden ins Haus lassen, herrschte im Erdgeschoss. So etwas wie diese Wohnung hatte ich vorher noch nie gesehen. Hier wurde hoechstens einmal im Jahr sauber gemacht. Der Boden war mit Klamotten, Essenresten, Zigattenstummeln, leeren Bierflaschen und Papierfetzen uebersaet, die sich an manchen Stellen zentimeterhoch stapelten, wahrscheinlich war darunter noch mehr Muell plattgetreten. Ausser einem Bett mit unbezogenen Kissen und Decken, einem Schrank ohne Tuer, einem Tisch, der an der Wand lehnte, weil ihm ein Bein fehlte, und einem klobigen Polstersessel undefinierbarer Stoffarbe davor bestand die Einrichtung aus ueberall meterhoch aufgebauten Buecherstoessen, vergammelten Vorhaengen vor blinden Fenstern und einer schmieriges Licht absondernden Gluehbirne. Die einzigen glaenzenden Gegenstaende waren ein Tonbandgeraet und ein Radio, von Hunderten von Kassetten umgeben. Die Waende waren mit Postern bedeckt, und tatsaechlich gab es mindestens zwanzig Fotos mit Bolan und der Band.
Selbst in der DDR war die grosse Begeisterung fuer T.Rex laengst verebbt. Man hoerte jetzt eher Yes, Pink Floyd oder Jethro Tull. Aber fuer meinen neuen Kumpel und mich war der Rausch des Teenage Dream nicht vorbei. Wahrscheinlich sah T.Rex in mir einen anderen Aussenseiter, der keine Angst davor zu haben schien, sich der Laecherlichkeit preiszugeben, weil die anderen die im Westfernsehen zu verfolgenden Buehnenauftritte von Bolan (Beat-Club, spaeter Disco) peinlich fanden. Die Oma erlaubte uns, die seltenen Shows auf ihrem Fernseher anzuschauen. Ansonsten lagen wir auf dem zugemuellten Fussboden und liessen uns von den Children of The Revolution zudroehnen. Abends hingen wir mit HR3 vor dem Radio und warteten angespannt auf den Moment mit den verzerrten Gitarrentunes und einem kitschigen Streichersound samt Fluegelhorn und Saxophon, von denen sich Bolans obszoene Roehrenstimme abhob wie eine Lache Pfeffischnaps auf dem Papier einer versauten Biologiearbeit. Children of Rarnin einer siebzehnminuetigen Version to be played at maximum volume: Wir wussten das auch ohne David Bowies Ratschlaege.
Von seinem Vater, der ein paar Jahre zuvor „verschwunden“ war, wie T.Rex kurz erklaerte, hatte er eine Menge Buecher geerbt. Es handelte sich vor allem um Insel-Ausgaben mit Klassikern, darunter aber auch Hoelderlin und Novalis, und in den kommenden Monaten, in denen ich T.Rex immer haeufiger besuchte, legten wir manchmal laengere Hoerpausen ein und lasen uns gegenseitig aus dem Hyperion oder Ofterdingen vor. Er setzte sich dabei auch Kopfhoerer auf und ahmte zwischendurch den Hintergrundchor nach (Whatever happens to the teenage dream…), waehrend ich mit Kunsttrauerstimme „So kam ich unter die Deutschen“ vortrug.
T.Rex war in der Schule ausschliesslich als Spassmacher akzeptiert. Als sich im September 1977 herumsprach, Bolan sei bei einem Autounfall getoetet worden, blieb er fuer eine Woche verschwunden und tauchte schliesslich mit schwarz gefaerbten Haaren in seiner Klasse auf. Auch ich hatte ihn in diesen Tagen nicht gesehen. Offenbar loeste er mit seinem Aufzug einige Unruhe aus. Mitschueler warfen mit Papierfliegern und Gummis nach ihm und kriegten sich vor Lachen nicht ein, Lehrer sahen sich ausserstande zu unterrichten, und der Direktor hielt es fuer geboten, ihn nach Hause zu schicken. Als ich ihn dort besuchte, hatte er die Fotos von der Wand genommen und die Waende schwarz gestrichen. Er erklaerte mir, mit Marc Bolan sei auch er gestorben, ich haette in ihm nicht den alten T.Rex, sondern Martin Beutler vor mir. Er koenne Musik von jetzt an nur noch allein hoeren.
Wir trafen uns trotzdem weiter, denn es machte mir Spass, mit ihm zusammen in den Buechern seines Vaters zu lesen. Martin Beutler hatte ein paar verbotene Sachen darunter entdeckt, wie sie damals in vielen kleinbuergerlichen Haushalten zu finden waren, in denen man sich noch nie und erst recht nicht seit Kriegsende fuer Literatur interessiert hatte: In Stahlgewittern, Das Jahr der Seele, ein Nietzsche-Lesebuch.
Spaeter raffte es ausser Bolan auch den Rest der ehemaligen Band hin: Steve Took zum Beispiel starb 1980 am Konsum einer Cocktailkirsche. Wir verfolgten diese Sachen wahrscheinlich beide nicht mehr, obwohl mich die Tobsucht der Sex Pistols oder die Nibelungen-Geschwader von Rammstein irgendwie an die Konzerte in T.Rex’s Hexenhaeuschen erinnerten: You won’t fool the children of the revolution…
Martin Beutler begann eine Buchhaendlerlehre, ich studierte im Lande Lenins Quantenchemie. Er zweigte in einem Antiquariat, in dem er eine Weile arbeitete und dessen Bestaende in den Westen verkauft wurden, Erstausgaben von Schopenhauer oder Taschenbuecher mit Freud und Jung ab. 1983 gehoerte er zu den ersten, die mit offiziellem Ausreiseantrag in den Westen gehen durften. Die Buecher, die er mir in den letzten Jahren besorgt hatte, galten als eine Vorauszahlung fuer Zigarettensendungen (Marke Karo), mit denen ich ihn an seinem neuen Wohnort in Muenchen versorgte.
Ein paar Jahre spaeter fiel die Mauer, und entweder gab es auch im Osten keine Karo mehr, oder Martin Beutler hatte sich inzwischen auf West-Tabak eingestellt. Schopenhauer und Freud gab es jetzt sowieso an jedem Kiosk, und die Zeit des Lesens schien auch vorbei.
Wir sahen uns kaum noch, seit ich Deutschland wieder verlassen hatte. Ich wusste, er jobbte in Schwulenbars und hatte einen kleinen Verlag gegruendet, in dem er Dichter veroeffentlichte, die Karl Wolfskehl oder Rudolf Borchardt zum Vorbild nahmen, um von einem neuen deutschen Reich zu traeumen. Er selbst, Martin, war einer von ihnen.
Ich besuchte ihn kurz vor seinem fuenfzigsten Geburtstag. Er hauste immer noch in Muenchen, im Keller einer Lagerhalle, in der die Baende seiner Edition zu Tausenden auf ihre bislang ausgebliebenen Leser warteten. Er lebte an der Seite eines mindestens zehn Jahre juengeren Kroaten, von dem ich nur Fotos an den Kellerwaenden zu sehen bekam. Der Mann hiess Jovan und hatte die aufmuepfigen Augen und das lange dunkle Lockenhaar von Marc Bolan. Martin stand im Begriff, seinen Namen und sein Geschlecht zu wechseln. Bis zu seinem fuenfzigsten Geburtstag sei seine Verwandlung in Martina Beutler abgeschlossen. Jovan und er haetten sich das beide gewuenscht. Tatsaechlich hob sich unter seinem T-Shirt ein deutlicher Brustansatz ab. Wenn er den Mund aufmachte, sah man die alte Zahnluecke mit dem Bruch. Er sah aus wie seine Grossmutter. Es ging ihm gut. Whatever happens to the teenage dream.
Erschienen in „The Beat goes On“, LangenMueller, 2011