Michael Schindhelm | ZHDK LECTURES OF GLOBAL CULTURE: MOSKAU

ZHdK Lectures of Global Culture: Moskau

 

Wer an Moskau denkt, denkt an sinistre Politiker wie Putin oder Stalin, an eisige Winter, das Glockenspiel im Kreml, Oligarchen in schwarzen Limousinen oder die Militaerparaden am Roten Platz.

Man stellt sich die Stadt nicht unbedingt als ein Labor der kulturellen Globalisierung vor. Immerhin ist Moskau vor Istanbul und London die bevoelkerungsreichste Stadt auf dem Kontinent und verfuegt ueber das groesste Territorium. In bezug auf ihre Ausmasse ist die Stadt die einzige echte Mega-City Europas.

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Auch war Moskau vor gar nicht langer Zeit das Zentrum eines Weltsystems, man koennte auch sagen eines globalen Imperiums (Weltkarte). Von hier gingen die gesellschaftlichen und kulturellen Experimente aus, die heute verkuerzt mit dem Begriff kommunistischer Zwangsherrschaft zusammengefasst werden. Die russische Avantgarde der ersten beiden Jahrzehnte des zwanzigsten Jahrhunderts hat nicht nur Literatur, Malerei und Musik massgeblich beeinflusst, sondern zum Beispiel auch die Typografie und Bildsprache von Massenmedien evoziert. Architekten entwarfen Standardstaedte fuer das wachsende Heer des Proletariats. Spaeter waren sowjetische Kosmonauten die ersten Menschen im Weltraum.

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In der Sowjetunion studierten ausserdem jahrzehntelang Studenten aus aller Welt, um spaeter zur Nomenklaura der sozialistischen Regierungen und Oppositionen in Osteuropa, Afrika, Asien oder Lateinamerika zu zaehlen. Uebrigens gibt es auch im heutigen Russsland Studenten vor allem aus dem afrikanischen Raum.

Die Stadt Moskau ist – unserer konventionellen Vorstellung von Zarismus und Tolstois „Krieg und Frieden“ zum Trotz – ein Produkt der Moderne. Mehr als 80 Prozent ihres Territoriums wurden im 20. Jahrhundert bebaut. Die oeffentlichen Plaetze und Strassen wurden fuer Massendemonstrationen geplant, das Proletariat wohnte (und wohnt) in gigantischen Plattenbausiedlungen. Die kommunistische Ideologie – so Lenin – wuerde einen neuen Menschen hervorbringen und damit natuerlich auch eine Kultur neuen Typus.

Das ist alles Geschichte, seitdem auch in Moskau der Kommunismus dem Kapitalismus gewichen ist und 1991 nicht nur das kommunistische Weltreich, sondern auch die Sowjetunion zerfiel.

Russland und seine Hauptstadt boten seit dem Ende der Sowjetunion meist ein problematisches Bild. Menschen verliessen in hellen Scharen das Land, meist Richtung Israel, USA oder Deutschland, darunter allein ca 90 000 Wissenschaftler. Die Bevoelkerung schrumpfte, die Geburtenrate war ploetzlich halb so hoch, die Sterberate jedoch doppelt so hoch wie fuenfzig Jahre zuvor. Die Zahl der vorzeitigen Todesfaelle (vor allem durch Alkoholismus) seit 1991 lag in der Groessenordnung der Opfer, die man waehrend des Zweiten Weltkrieges zu beklagen hatte.

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Der Kapitalismus zeigte ausgerechnet im Lande des ehemaligen Klassenfeindes sein widrigstes Gesicht. Die Mangelwirtschaft wurde aufgespalten in eine allmaehlich verarmende Massengeseschaft und eine unvorstellbar reiche Oligarchie.

Am Zustand der russischen Hauptstadt laesst sich ablesen, welche kulturellen Veraenderungen nicht nur das Ende des Kommunismus, sondern auch die Globalisierung ueber das Land gebracht hat. Hier verlaufen die Fronten zwischen Reform und Reaktion. Und die Fronten sind oftmals unsichtbar. Denn Moskau ist eine riesige Stadt, ein Labyrinth. Wie gross sie wirklich ist, weiss aufgrund der Dunkelziffern illegaler Wohnsitze niemand. Wahrscheinlich leben in Moskau mehrere Millionen Menschen ohne Aufenthaltsgenehmigung. Diese Folie zeigt, dass die Daten aus der letzten Volkszaehlung untauglich zu sein scheinen. Unabhaengige Analysten werfen der Regierung vor, die Statistiken in ihrem Interesse zu manipulieren.

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Auch der Anteil von Auslaendern ist umstritten und macht moeglicherweise ein Drittel der Stadtbevoelkerung oder mehr aus. Die Mehrheit von ihnen ist vermutlich muslimischer Abstammung. Zugleich ist das Verhaeltnis zwischen muslimischer und christlicher Bevoelkerung dauerhaft angespannt.

Ein Rundgang durch den oeffentlichen Raum der Stadt illustriert all diese Widersprueche. Ausgerechnet die Regierung Putin hat den prominentesten oeffentlichen Raum der Stadt, den Kreml, zu einer Einnahmequelle umfunktioniert. Seit einigen Jahren wird erstmals in der Geschichte der Stadt Eintritt zur Besichtigung der oeffentlichen Raeume der Schloss- und Festungsanlage erhoben.

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Durch einen Beschluss der Stadtregierung hat sich ausserdem vor ein paar Wochen das Territorium Moskaus mehr als verdoppelt. Dieser scheinbar rein verwaltungspolitische Schritt ist als ein Zeichen dafuer zu werten, dass die russische Regierung ihre Hoffnung nicht aufgegeben hat, ihre Hauptstadt zum Zentrum einer wiedererstarkten Supermacht zu machen.

Unter dem Slogan einer allgemeinen „Modernisierung“ hatte Praesident Medvedev im Jahr 2009 den Aufbau eines „Silicon Valley“ vor den Toren Moskaus angekuendigt und mit der Umsetzung dieses Plans einen regierungstreuen Oligarchen betreut. Das Skolkovo Innovation Center sollte dem andauernden Brain Drain russischer Wissenschaftler und Erfinder abhelfen und neben der einheimischen auch die internationale Kreativitaet anziehen. Einerseits verkoerpert dieses inzwischen allmaehlich Gestalt annehmenden Projektes die Tradition der sowjetischen Monostaedte. Die Sowjetunion verfuegte ueber mehrere hundert Spezialsiedlungen, die der Entwicklung und Produktion von Industrie- oder Wissenschaftszweigen dienten. Das Kernfoschungszentrum Dubna, die sibirische Wissenschaftsstadt Akademgorodok oder die Kosmonautenzentrale Baikonur waren auch international bekannt. Allerdings galten diese Orte als fuer Aulaender geschlossen.

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Deshalb ist das aktuelle Projekt Skolkovo auch der Versuch, die russische Wissenschaft aus der internationalen Isolation und damit Rueckstaendigkeit zu fuehren. Der Hinweis auf Silicon Valley wies klar darauf hin, dass man einen weltoffenen, gobalen Wissenschaftsstandort anstrebte. Tatsaechlich waere dies eine absolute Novitaet. Die Sowjetunion des zwanzigsten Jahrhunderts hatte auf nahezu totale Abgrenzung gesetzt. Zumindest der progressivere Teil der russischen Fuehrung sucht heute den Kontakt mit der Welt. Fuer Skolkovo sind bereits Standort-Vertraege mit Unternehmen wie Google, Boeing oder Siemens abgeschlossen worden. Start-ups aus dem In- und Auslands werden wirtschaftliche Vorteile bei Ansiedlung in Skolkovo versprochen. Die Stadt soll ausserdem eine Smart City werden, basierend auf neuesten technologischen und oekologischen Ueberlegungen.

Skolkovo soll einmal von 45 000 Menschen bewohnt werden. Darunter befaenden sich theoretisch auch Internet-Geeks aus Kalifornien, Mathematiker aus Bangalore und Ingenieure aus Shenzen. Die heutige Realitaet oeffentlicher Kultur in Russland ist jedoch kaum auf eine solche Gobalisierung vorbereitet. Um den internationalen Nomaden von Skolkovo samt ihren Familien in Zukunft ein sicheres und komfortables Leben zu ermoeglichen, muesste Skolkovo zu einem echten Labor der kulturellen Globalisierung werden, in dem russische und internationale Kommunikation und Kultur ein urbanes Amalgam bilden. Die Frage wird sein, wie ein Labor mit 45 000 Menschen in unmittelbarer Naehe von einem Stadt-Monster wie Moskau entstehen kann, ohne dass sich dieses Labor von seinem invasiven Nachbarn abschotten muss. Aus den sowjetischen Monostaedten von einst war die allgemeine Oeffentlichkeit verbannt. Skolkovo soll eine offene Stadt werden. Paradoxerweise scheint dieses Experiment aber nur moeglich zu sein, wenn es vor dem Risikofaktor der Mega-City, ihrer schleichenden Xenophobie, Kriminalitet und sozialen Ungerechtigkeit, geschuetzt wird. Es ist schwer vorstellbar, wie eine Offenheit in Geschlossenheit zu einem kosmoplitischen Klima fuehren soll.

Doch Moskau erfaehrt die Paradoxa der kulturellen Globalisierung nicht nur in Gestalt von hochrangigen Regierungsprojekten. Die Stadt brodelt vor allem an der Basis. Waehrend Russlands Bevoelkerungszahl sinkt, waechst die seiner Hauptstadt. Derzeit leben hier mindestens 12 Millionen Menschen. Angeblich wuerden bis zu 60 Millionen Russen bevorzugt in Moskau leben wollen. Das sind mehr als 40 Prozent der Landesbevoelkerung. In Europas Osten ist demzufolge mit Moskau eine Agglomeration herangewachsen, die an die Dimensionen von Shanghai oder Rio erinnert.

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Diese Dynamik befoerdert neue Strategien zur Bewaeltigung des Alltags. Russlands Staat liebt zwar die Geste der Staerke, erweist sich aber in der sozialen Wirklichkeit oft als ueberfordert. Viele Menschen greifen zur Selbsthilfe, weil die Verwaltung ihnen die Unterstuetzung versagt. Die ehemals kommunistische Praxis des Subbotniks, freiwilliger unentgeltlicher Arbeit, hat in den Mikrorayonen Moskaus wieder Einzug gehalten. Urban Agriculture, im Westen der Chic der heutigen Protestbewegung, hat in der Mangelwirtschaft der Sowjetunion eine lange Tradition, die jetzt wiederbelebt wird.

Waehrend in Staedten wie Dubai und Hong Kong und natuerlich auch in den Staedten des Westens die kulturelle Globalisierung massgeblich durch die reale physische Praesenz von Auslaendern in diesen Staedten initiiert worden ist, spielt im Moskau von heute die Technologie die Rolle eines Inkubators. Die politische und geografische Isolation der Russen hat in den letzten Jahren dazu gefuehrt, dass diese Nation zu einem Hauptkonsumenten elektronischer Medien geworden ist.

Netzwerke wie Facebook aber vor allem die einheimischer Herkunft haben auch das Kommunikationsverhalten fundamental veraendert. Russen verwenden doppelt so viel Zeit mit Sozialmedien wie der globale Durchschnitt. Anders als in China unterliegt das Internet bislang keiner direkten politischen Zensur. Die heftigen Anti-Putin-Bewegungen von 2012 sind oft ueber soziale Netzwerke organisiert worden. Der virtuelle oeffentliche Raum hat sich in Russland zu einem Millionen-Forum gemausert, in dem viele Diskussionen gefuehrt werden, die im realen oeffentlichen Raum nicht moeglich sind und einen immensen Einfluss auf das soziale Klima haben.

Die Impulse gehen von der Generation der Dreissig- bis Vierzigjaehrigen aus. Sie bilden den Kern der neuen ausserparlamentarischen Opposition. Viele von ihnen haben andere Laender gesehen, vielleicht dort sogar studiert oder gearbeitet. Sie kennen alternative soziale Systeme aus eigener Erfahrung und haben eine klare Meinung dazu, was Russland fehlt.

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Zudem hat die Kommunikationstechnologie die globale Protestbewegung vernetzt. Die Demonstrationen auf den Strassen Moskaus haben andere Ziele als die auf dem Taqir-Platz oder im Zuccotti-Park an der Wall Street. Aber die Formen der Artikulation, die Kulturtechnik des Protests sind die gleichen. Umgekehrt traegt Moskau seinen Beitrag zum Repertoire bei. Pussy Riot ist laengst das Sinnbild fuer eine Protestkultur geworden, unter deren Auspizien sich Madonna und Elton John mit ukranischen Feministinnen verstaendigen koennen.

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Versuche politischer und wirtschaftlicher Internationalisierung, elektronische soziale Netzwerke, individuelle Selbst-Verantwortung und schieres Wachstum haben aus der grimmigen und scheinbar monochromen Stadt Moskau ein urbanes Labor gemacht, in dem subversive Lebens- und Ausdrucksformen jetzt mit den vertrauten autoritaeren konkurrieren. Die einzige Megacity Europas befindet sich inmitten eines staatlich ungewollten Experiments, das ueber die Zukunft Russlands entscheidet.

Kulturelle Globalisierung ist also nicht immer Ergebnis des unmittelbaren physischen Austauschs zwischen fremden Kulturen. Insbesondere die Informationstechnologie ist der Schluessel zur Verbreitung von globaler Kultur geworden.

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