ZHdK Lectures on Global Culture: Hong Kong
Im vergangenen Kapitel haben wir beobachten koennen, wie eine junge, schnellwachsende Metropole mit einer einheimischen Bevoelkerung nomadischer Herkunft im Furor der Globalisierung um eine eigene Identitaet ringt.
Waehrend die traditionelle Kulturgeschichte der Beduinen am Arabischen Golf kaum ueber die Grenzen der Stammesverbaende vorgedrungen ist, gehoert die chinesische und speziell die kantonesische Kultur unbestritten zu den Champions weltweit.
Die Stadt Hong Kong ist eine der fruehesten Metropolen Asiens. Sie verkoerpert die Welt der Dschunken und Opiumhoellen, des tropischen Strassenjungels und der globalen Finanzmaerkte gleichermassen. Auch sie ist wie Dubai eine Hafenstadt und gilt seit mindestens hundertfuenfzig Jahren als Tor zum Reich der Mitte. Anders als Dubai hat Hong Kong jedoch eine echte Kolonialvergangenheit. Die Gesellschaft ist stark von britischen Einfluessen gepraegt, z. B. in Verwaltung und Rechtswesen, in der Bildung oder der volkswirtschaftlichen Ausrichtung.
Als 1997 Hong Kongs Wiedervereinigung mit dem vierzig Jahre zuvor kommunistisch gewordenen Mutterland bevorstand, schien der Stern der Stadt im Sinken begriffen. Eine halbe Million Menschen, vor allem dem Mittelstand zugehoerig, verliess aus Angst vor den Kommunisten die Stadt, meistens Richtung Australien, Neuseeland, Kanada, Grossbritannien oder USA.
Koloniale Eliten raeumten das Feld fuer die Wirtschaftseliten des neuen China. Fuenfzehn Jahre spaeter hat Hong Kong wieder die Bevoelkerungszahl von einst: sieben Millionen Menschen leben hier, und der weitaus groesste Teil von ihnen ist chinesischer Abstammung.
Doch wenige Staedte demonstrieren wie Hong Kong die Vielfalt der chinesischen Kulturen. Neben der Mehrheit der Kantonchinesen mit ihrer autonomen politischen und kulturellen Vergangenheit bewohnen Han-Chinesen die Stadt ebenso wie Taiwanesen, Malaien oder Menschen aus Singapur. Seit dem neunzehnten Jahrhundert pendeln viele Chinesen im pazifischen Raum und haben den Ozean selbst zu einem Kulturraum gemacht, in dem sich suedasiatische, amerikanische, kanadische oder australische Einfluesse mit den chinesischen vermischen.
Obwohl Hong Kong also eine chinesische Stadt ist, hat sie ihren eigenen Kosmopolitismus entwickelt. Hunderttausende Buerger dieser Stadt sind Chinesen mit internationalem Hintergrund.
Hong Kong scheint also zunaechst sowohl eine „traditionelle“ asiatische Stadt zu sein, mit einer grossen Mehrheit von Menschen ein und derselben Kultur, als auch ein Ort intensiver Durchmischung von asiatischen und westlichen Einfluessen. Es sind nicht unbedingt Auslaender, sondern die Hong Kong-Chinesen selbst, die die Welt in ihrer Stadt vertreten.
Trotzdem ist die Stadt eine Drehscheibe nicht nur zwischen Ost und West. Diese Folie zeigt eines von Hong Kongs bekanntesten Gebaeuden: das Chung King House. Der Filmemacher Wong Kar Wei, Star des internationalen Kunstkinos, portraitierte das Leben dieses Ortes in einem seiner Filme. Das Chung King House ist eine Rotationsmaschine des afro-indo-chinesischen Kleinhandels. Mobiltelefone fuer Tansania, Sonnenbrillen fuer Kerala oder Medikamente fuer Mauritius. Taeglich wechseln die Haendler, die Waren, Kunden, Waehrungen…
Das Bild ist jedoch vor allem seit der Wiedervereinigung komplizierter geworden. Vor zwanzig Jahren hatte die kommunistische Regierung bereits das Perlflussdelta zur Sonderwirtschaftszone erklaert. Der rasante Wirtschaftsaufbau in der Region fuehrte zu einer weltweit unvergleichlichen Zusammenballung von Menschen. Riesenstaedte entstanden wie aus dem Nichts. Dies alles vor den Toren Hong Kongs, das vom Austausch mit der Zone wirtschaftlich stark profitierte.
Heute umfassen die Wirtschaftsregion der neuen, kommunistischen Stadt Shenzen und Hong Kong allein eine Bevoelkerung von 19 Millionen Menschen. Schaut man sich jedoch das gesamte Perlflussdelta an, dann haben wir eine Metropolitanregion vor uns, deren Bevoelkerung weit ueber die 50 Millionen geht. Eine Stadt ungefaehr von der groesse Italiens oder Gossbitanniens!
Abgesehen von der alten Kaiserstadt Kanton (Guangzhou) im Westen dieser Region wird im Perlflussdelta vor allem Han-Chinesisch gesprochen. Zudem besuchen heute bereits 28 Millionen Chinesen, die mehrheitlich den Han angehoeren, jedes Jahr die Stadt Hong Kong. Aus der groesseren Entfernung betrachtet befindet sich die Sieben-Millionen-Metropole Hong Kong also im Status einer kantonchinesischen Minderheit.
Die Praesenz der Han-Chinesen wird weiter zunehmen. So hat die Zentralregierung in Kooperationen mit den Regionalverwaltungen vor einigen Jahren den Aufbau eines Metro-Systems beschlossen, das unter anderem die Staedte des Perlflussdeltas auf innerstaedtische Zeitdistanzen zusammenbringen soll. Allein diese neue Zugverbindung wird voraussichtlich Dutzende Millionen Besucher in die Stadt bringen.
An der Endstation dieser Schnellzugtrasse werden in den naechsten Jahren 40 Millionen Menschen jaehrlich ein- oder aussteigen. Dieser Ort ist der Ausgangspunkt eines Kulturprojekts, an dem sich ermessen laesst, wie die Stadt Hong Kong als Metropole der kantonalen und der kosmopolitischen Kultur um ihre Identitaet ringt.
Dieser Endbahnhof ist im Herzen der Stadt, auf der Festlandseite des Stadtteils Kowloon vorgesehen. Wie wir auf diesen beiden Folien sehen, ist das Land, das den Bahnhof vom Hafen trennt, derzeit nicht bebaut. Eine fuer Hong Kong, der dichtest besiedelten und nahezu teuersten Stadt der Welt, eine ungewoehnliche Tatsache. Bereits in 2006 hatte die Regierung Hong Kongs beschlossen, diese Flaeche in einen Kultur- und Freizeitpark umzuwandeln. Der Auftrag wurde an eine lokale Entwicklungsgesellschaft vergeben, die ein Masterplan-Konzept entwarf. Konzept und Vorhaben stiessen jedoch in der Bevoelkerung auf grossen Widerstand. Vorgesehen war eine gigantische Konsumlandschaft mit grossflaechiger Ueberdachung. Doch Hong Kong hatte sich einen oeffentlichen Raum versprochen, buchstaeblich einen offenen Raum. Die Stadt verfuegt ueber wenige Parks. In den angrenzenden Stadtvierteln wohnen bis zu 140 000 Menschen pro Quadratkilometer zusammen. Und die umstrittene Bebauung sollte sich immerhin ueber 40 Hektar erstrecken.
Der oeffentiche Protest erreichte ein Ausmass, das die Regierung zum Rueckzug zwang. Der vorgeschlagene Entwicklungsplan wurde verworfen. Stattdessen uebernahm es die Regierung selbst, den West Kowloon Cultural District, wie das Projekt von nun an heissen sollte, selbst zu entwickeln.
3 Milliarden USD oeffentlicher Gelder wurden bereitgestellt, um vor den Toren einer der groessten Metrostationen der Welt ein neues Kulturzentrum zu errichten. 2008 wurde ein internationaler Masterplan-Wettbewerb ausgeschrieben. Die Plaene der Regierung wirken aus der Perspektive konventioneller Stadtentwicklung monstroes. Waehrend allerdings 40 Prozent der Flaeche als Park genutzt werden sollen, ist die Bebauung von 726 000 Quadratmetern vorgesehen. Dies ist ungefaehr sechsmal so gross wie das Sony Center in Berlin. Wiederum 40 Prozent dieser Flaeche sind fuer Kulturbauten reserviert. Unter anderem sollen mindestens 15 Theater und Konzerthaeuser verschiedener Groessenordnungen entstehen, von einer Arena a la Madison Square Garden bis zu Minibuehnen. Ausserdem ein gigantisches Ausstellungszentrum und ein Museum fuer Gegenwartskunst, das sich mit den legendaeren Institutionen des Centre Pompidou oder des Museum of Modern Art messen lassen will.
Das alles klingt bedenklich gross und ambitioniert. Zumal ein Rundgang durch die Stadt – wie auf diesen Folien – zeigt, dass Hong Kong bereits eine gewisse Infrastruktur an Theatern und Museen zu bieten hat.
Obgleich dies so ist, schneidet die Stadt jedoch im Vergleich zu internationalen Kulurmetropolen schlecht ab. Hong Kong ist bislang noch kein bedeutender Kulturstandort. Das soll sich nun aendern.
Der West Kowloon Cultural District ist nur ein praegnantes Beispiel dafuer, wie und warum das geschehen soll. Die Zusammenballung von mehr als 50 Millionen Menschen ueberwiegend han-chinesischer Herkunft veranlasst zu einem Nachdenken ueber die kuenftige Identitaet der Stadt. Drei Argumente sprechen deshalb fuer die Initiative des West Kowloon District.
Erstens: Will die Stadt ihre Bedeutung als zentraler Ort der kantonesischen Kultur behaupten, dann muss sie dafuer sorgen, dass diese Kultur weiterhin lebendig bleibt und gepflegt wird. Dies gilt besonders fuer die wichtigste Kunstform der kantonesischen Kultur, die kantonesische Oper. Diese Kunst geniesst zwar nach wie vor eine gewisse Popularitaet, verfuegt jedoch weder ueber einen markanten Auffuehrungsort, noch ueber eine eigene Ausbildungsstaette. Der West Kowloon Cultural District hat daher zuerst den Bau eine Xiqu-Theaters, also einer kantonesischen Oper, in Auftrag gegeben. Sie soll den Standort Hong Kongs in der kantonesischen Kultur symbolisieren.
Der Schutz der kanonesischen Sprache ist ein Anliegen, das natuerlich weit ueber den Aufbau einer Kulturinfrastruktur hinausgeht. Jedoch wird auch der WKCD seinen Beitrag dazu leisten und eine zentrale Bibliothek mit einem Schwerpunk auf der Pflege der kantonesischen Literatur beherbergen.
Zweitens: Hong Kong ist nicht nur eine Stadt der kantonesischen Kultur, sondern auch der Symbiose aus westlicher und asiatischer Kunst. Wo sich das Reich der Mitte oft abgeschlossen hat, hat Hong Kong seine Tore weit geoeffnet, haben seine Einwohner den Austausch mit fremden Kulturen gepflegt. Es ist sicherlich kein Zufall, dass es vor allem aus dieser Stadt stammende Kuenstler wie Bruce Lee oder Jackie Chan waren, die durch ihren Erfolg in Hollywood ueber Jahrzehnte das Bild des Asiaten in der globalen Film- und Medienwelt repraesentierten. Hong Kongs Film-, Spiel- und Animationsindustrie ist eine eigene Traumfabrik. Als vor wenigen Jahren der US-amerikanische Film Kungfu Panda auf den Markt kam und vor allem in China einen grossen Erfolg einbrachte, fasste ein chinesischer Medientheoretiker die Situation so zusammen: My imitation of your imitation of me, and your consumption of our consumption of you.
Der West Kowloon Cultural District wird diesen Aspekt der kosmopolitischen Identitaet zweifelsohne verstaerken helfen: Hong Kong als Produzent globaler Kulturinhalte asiatischer Herkunft. Ein erheblicher Teil des kulturellen und kommerziellen Bauprogramms wird der Film-, Spiel- und Animationsbranche gewidmet werden.
Doch Hong Kongs Rolle als Vermittler zwischen Ost und West hat auch eine heikle Seite. Waehrend auf dem kommunistischen Festland Zensur herrscht, gilt in Hong Kong Meinungsfreiheit. Will Hong Kong seine Autonomie bewahren, dann ist die Freiheit der Kunst sicherlich die wichtigste Mission des West Kowloon Cultural District. Noch befindet sich das Gesamtkonzept des Districts in der Entwicklung. Doch fordert eine wachsende Oeffentlichkeit in der Stadt, dass der WKCD in erster Linie Hong Kongs Autonomie staerken soll.
Das in diesem Zusammenhang wichtigste Projekt ist der Aufbau des Museums M+ fuer Chinesische Gegenwartskunst. Zum ersten Mal soll auf chinesischem Boden eine Sammlung der einheimischen Kunst unserer Zeit entstehen, die keiner inhaltlichen oder politischen Zensur unterliegt. Da viele prominente Kuenstler Chinas zugleich politische Oppositionelle sind, ist ein solches Museum auf dem Festand der VR China vorlaeufig nicht denkbar.
Der WKCD hingegen hat bereits erste Schritte unternommen, um M+ zum Vorreiter der Kunst in Asien und China zu machen. Im Juni 2012 wurde die weltweit groesste Sammlung chinesischer Gegenwartskunst des Schweizers Uli Sigg zu erheblichen Teilen erworben. Mit 1600 Werken vorallem der letzten vierzig Jahre chinesischer Kunst hat Hong Kong damit den Grundstock zu einer einzigartigen und auf er anderen Seite der Grenze vorlaeufig unmoeglichen Sammlung gelegt. Inzwischen wurde der Museumsbau in die Haende des erfolgreichen Architektenduos Herzog & de Meuron gelegt. Die Schweizer hattten bereits das Olympia-Stadion von Peking entworfen. Dass sie nun ein Museum entwickeln, dass der der Freiheit chinesischer Gegenwartskunst dienen soll, ist mehr als ironischer Zufall.
Drittens: Hong Kong ist der traditionelle asiatische Handelsplatz. Die Kultur des Marktes ist an wenigen Orten der Welt so reich und energetisch wie in Hong Kong. Insofern wird auch der Kulturmarkt in Hong Kong eine zentrale Rolle spielen. Die groesste Kunstmesse der Welt, Art Basel, hat in 2013 einen Ableger in Hong Kong geschaffen. Die Stadt gilt bereits als der wichtigste Kunstmarkt des Ostens.
Der WKCD ist nur ein Beispiel fuer die kulturelle Aufbruchstimmung in Hong Kong. Moegen auch manche Projekte den Eindruck erwecken, sie seien am politischen Reissbrett entstanden und „von oben“ verordnet, stellt sich jedoch heraus, dass Hong Kongs komplizierter Weg in die Demokraie durch eine heisse Phase oeffentlicher Partizipation geht. Allein die Entscheidung zum Masterplan fuer den WKCD fuuehrte durch einen Prozess von mehr als 80 oeffentlichen Anhoerungen.
In ganz anderem Sinne als die im Ferrari-Tempo aus den Duenen hervor schiessende Stadt Dubai ist Hong Kong ebenfalls ein Labor der globalen Kultur.
Die Stadt am Chinesischen Meer ist ein Beispiel dafuer, dass „global“ nicht immer die ganze Welt umfassen muss. Im Falle von Hong Kong meint „global“ vor allem „grenzueberschreitend“. Bereits die Grenze zwischen verschiedenen Chinas kann die gesamte Welt enthalten. Hong Kong zeigt, dass die Identitaet einer Stadt aus sehr unterschiedlichen, ja scheinbar entgegengesetzten Elementen bestehen kann. Hong Kong ist zugleich eine supermoderne Metropole und verfuegt doch ueber nahezu unberuehrte Landschaften. Sie ist neben Tokio die Metropole Asiens und ganz anders als Tokio eine Stadt voller westlicher Einfluesse.