ZHdK Lectures on Global Culture: Introduction
Hallo, ich bin Michael Schindhelm. Heute bin ich Schriftsteller, Filmemacher und Kulturberater, frueher habe ich aber auch Theater und Opernhaeuser geleitet. Meine Arbeit in Europa, Asien und dem Mittleren Osten, zum Beispiel in Berlin, Dubai, Hong Kong, Beijing oder Moskau, hat mich immer wieder auf die Frage gebracht: Was ist eigentlich globale Kultur?
Diese Szenen aus dem „Fest der Farben“, einem indischen Fruehlingsfest Holi am Vollmondtag des Monats Phalguna, vermitteln einen Eindruck von der rauschhaften Atmosphaere eines der aeltesten Feste der Welt.
Diese Werbung von Orange Deutschland wiederum nimmt das Motiv von Holi auf, um die Partygeneration unter den Kunden des Telefonanbieters fuer sich zu gewinnen.
Vielleicht zeugen diese Bilder nur von der kommerziellen Verwertung eines alten Kulturereignisses, vielleicht weisen sie auch auf die Transformation hin, in der sich heute Kultur unter dem Einfluss der Globalisierung befindet.
Um auf die Frage „Was ist globale Kultur?“ eine Antwort geben zu koennen, werden wir in den naechsten 6 x 15 Minuten auf Reisen gehen, aber nicht nur in Staedte und Laender, sondern auch in Theorien, in der Zeit oder im Internet. Die Kulturen der Welt sind ein immens komplexer Gegenstand. Eine endgueltige Antwort auf unsere Frage werden wir daher nicht anstreben.
Die einfachste Antwort waere eine geografische Erweiterung des Kulturbegriffs. Gewissermassen nach dem Motto: Frueher hatten wir Heimatkultur, dann nationale Kultur, darauf europaeische Kultur, und jetzt ist der Horizont noch weiter aufgegangen, und wir haben globale Kultur.
Global meint aber nur unter anderem „die ganze Welt betreffend“. Wir assoziieren auch Begriffe wie grenzueberschreitend, allseitig oder umfassend. In diesem Sinne koennte man also vorlaeufig sagen, globale Kultur entspricht dem Eindringen der „grossen“ Welt in die „kleine“ und umgekehrt. In der einen oder anderen Form, mittelbar oder unmittelbar, betrifft sie alle. Ihr Einfluss mag dabei gross oder klein sein, aus Nah oder Fern kommen, von Vielen oder Wenigen betrieben werden, schmerzlich auftreten oder nahezu spurlos vorueber gehen: Globale Kultur ereignet sich fuer jedermann.
Drehen wir die Zeit erst einmal zurueck, um nach Ereignissen zu suchen, an denen sich globale Kultur anfangs manifestiert hat. Traditionell wird die allgemeine Globalisierung, die wir seit der zweiten Haelfte des zwanzigsten Jahrhunderts wachsen sehen, auch als Triebkraft hinter den parallelen kulturellen Veraenderungen verstanden.
Kulturen stehen jedoch bereits in Austausch, seit Menschen Transportmoeglichkeiten gefunden hatten, um Meere zu ueberqueren und fremde Kuesten zu erreichen. Der indische Ozean war schon vor Jahrtausenden ein hoch frequentierter Wasserweg fuer Menschen und Kulturgueter.
Seine stabilen Passat- und Monsunwinde, die im Winter von Nordost nach Suedwest ziehen und im Sommer in die entgegengesetzte Richtung, gewaehrleisteten sichere Ueberfahrt zwischen Afrika, Indien und selbst Australien.
Nehmen wir zum Beispiel diese Porzellanscherben.
Sie stammen von einem Strand des kleinen Eilands Kilwa vor der Kueste Tansanias. Das Porzellan stammt aus China. Die geometrische Komposition anderer Splitter deuten auf ihre Herkunft aus dem Irak oder Syrien. Vor achthundert Jahren war Kilwa ein bluehender Handelsplatz. Inder, Araber und Chinesen tauschten hier ihre Waren aus.
Handels- und Finanz-Imperien des ausgehenden Mittelalters in Europa wie die der Monte dei Paschi oder Fugger lassen bereits so etwas wie eine globale Strategie erkennen. Entdeckungen und Eroberungen anderer Kontinente, wie sie seit dem 14. Jahrhundert stattgefunden haben, waren immer auch Entdeckungen und Eroberungen anderer Kulturen. Die Geschichte Marco Polos in China, unter dem Titel Il Milione ein jahrhundertelanger Bestseller, regte die besitzergreifende Phantasie von Columbus und Seinesgleichen an.
Die Vernetzung der Welt mittels Handel und zugleich mittels politischer, oekonomischer und kultureller Einnahme sogenannter Kolonien durch ihre Kolonisten ist vielleicht ueberhaupt erst intensiv in Gang gekommen, nachdem dem weltreisenden Europaeer der unermessliche Reichtum einer anderen Kultur – im Falle von Marco Polo der Chinas – begreiflich wurde und er darueber zu berichten begann. Schon am Beginn dieser Vernetzung, die wir heute Globalisierung nennen, stand deren kulturelles Aequivalent.
Der Kolonialismus hat unter vielen anderen Aspekten unzaehlige kulturelle Transformationen ausgeloest. Zum Beispiel Menschen in Afrika, die ueber Jahrhunderte in einer Stammesgemeinschaft auf ein und demselben Territorium gelebt hatten, wurden durch Handelsexpeditionen oder militaerische Operationen im spaeten neunzehnten oder fruehen zwanzigsten Jahrhundert ploetzlich in andere Regionen verbracht und dort mit fremden Sprachen und kulturellen Gewohnheiten konfrontiert. Rituelle Taenze begannen sich unter diesem Einfluss zu veraendern. Suaheli, urspruenglich nur an der Kueste Ostafrikas heimisch, wurde allmaehlich zur Lingua Franca im Landesinnern.
Obwohl der Kolonialismus in tiefgreifender und traumatischer Weise kulturelles Selbst- und Fremdverstaendnis gepraegt und erschuettert hat, werden die aus diesem Verstaendnis hervorgegangenen Wertvorstellungen und Verhaltensmuster seit einiger Zeit von politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Veraenderungen ueberlagert und beeinflusst, die wir im engeren Sinne als jene der Globalisierung betrachten. Um diese Veraenderungen und Einfluesse wird es mir heute gehen. Kulturelle Globalisierung hat natuerlich nicht auf einen Schlag stattgefunden, sondern sich durch viele Ereignisse angekuendigt.
Stellvertretend moechte ich auf eine Fotoausstellung eingehen.
Family of Man war eine Fotoausstellung, von dem Fotografen Edward Steichen kuratiert, die 1955 zum ersten mal im MoMA in New York gezeigt worden ist und darauf durch 38 Laender tourte.
Aus ueber 2 Millionen eingesendeten Fotos wurden etwa 500 Arbeiten von 273 Profis und Amateuren ausgewaehlt. Die Ausstellung unternahm den Versuch einer visuellen Anthologie von Szenen elementarer humaner Erfahrung wie Geburt, Liebe, Genuss, Krankheit, Tod und Krieg.
Sie beabsichtigte sowohl den universellen Charakter dieser Erfahrung zu schildern, als auch die Rolle der Fotografie in ihrer Dokumentation darzustellen. FoM wurde bereits kurz nach ihrer Eroeffnung als „the greatest exhibition of all time“ bezeichnet.
In seinem 1957 erschienen Band Mythologies bespricht Roland Barthes die Ausstellung.
Der Band selbst beschaeftigt sich mit den Mechanismen sprachlicher Manipulation, wie sie der Autor in der Alltagskultur der damaligen Zeit beobachtete. Der Mythos ist laut Barthes Diebstahl an einer Ausdrucksweise, er dreht Sinn um in Form. Er ist eine entpolitiserte Aussage. Fuer Barthes ist auch „The Family of Man“ eine solche entpolitisierte Aussage. Der Mythos der conditio humana bestuende hier in der Behauptung, man muesse nur tief genug graben, um festzustellen, auf dem Grund der Geschichte befinde sich die Natur. Die Aufgabe des modernen Humanismus, so Barthes weiter, sei es hingegen, den alten Betrug aufzudecken und die „Gesetzmaessigkeiten“ der Natuer „aufzureissen“, bis darunter die Geschichte hervortritt.
Bezogen auf Family of Man besteht der alte Betrug fuer Barthes darin, Tod, Geburt und andere essentielle Wesenheiten der conditio humana zu verallgemeinern und schliesslich zu universalisieren. (nochmals die Fotos gegenuebergestellt) Die Fotos kreieren eine poetische Aura um Szenen des elementaren Menschseins herum. Die Poesie ueberhoeht und verhuellt zugleich die soziale Dimension dieses Menschseins. US-amerikanische Mittelstandsfamilien und brasilianische Favelabewohner leben und sterben zwar unter denselben biologischen Gegebenheiten, aber unter drastisch unterschiedlichen Bedingungen. Die Grundaussagen poetischer Fotografie, behauptet Barthes ueber die kuratorische Idee von Edward Steichen, fuehren zu einer Rechtfertigung von sozialer Ungleichheit, denn Family of Man behauptet suggestiv, vor der Kamera seien alle, die Armen wie die Reichen, die Weissen wie die Schwarzen, gleich.
FoM wurde in 38 Laendern der Nachkriegszeit gezeigt und von 9 Millionen Menschen besucht. 163 der 273 ausgewaehlten Fotografen waren Amerikaner. Zweifelsohne war FoM einer der ersten massiven Kulturexporte der neuen Supermacht USA in die nichtkommunistische Nachkriegswelt und gilt daher weiterhin als ein Symbol fuer die Politics of Attention waehrend des Kalten Krieges.
Der Franzose Barthes hat die Ausstellung in Paris gesehen, in der einstigen, nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges verarmten und in ihrer Identitaet verunsicherten Weltkulturhauptstadt. Die Show war zweifelsohne auch ein Indiz dafuer, dass in den kommenden Jahrzehnten der franzoesische durch einen amerikanischen Kultur-Universalismus verdraengt werden wuerde. Insofern moechte ich behaupten, dass Barthes‘ harsche Kritik an der Ausstellung zumindest unter anderem auf den irritierenden Eindruck zurueckgeht, dass die Deutungshoheit darueber, was die conditio humana ist, ploetzlich ueber den Atlantik gewandert war.
Die Zeit der fuenfziger Jahre, das Vordringen von Hollywood, Rock&Roll und Fast Food, ist der Beginn der von den USA ausgehenden Globalisierung generell. Im Wettstreit der politischen Systeme erwiesen sich die USA nicht nur als eine stabil erfolgreiche Volkswirtschaft, sondern auch als eine Kulturmacht, die ihren Hegemonialanspruch nicht unbedingt mit staatlichen Programmen a la Goetheinstitut oder Alliance Francaise verbreitete, sondern durch kommerzielle Brands und Dienstleistungen, die seit langem ebenso wie noch heute fuer den langfristigen Erfolg amerikanischer Kultur stehen.
Als schliesslich der Kalte Krieg 1989 mit beinahe einem Schlag entschieden war, schien nichts natuerlicher als die Annahme des amerikanischen Politikwissenschaftlers Francis Fukuyama, dargelegt in The End of History and The Last Man, dass sich die Welt auf eine einheitliche Weltordnung im Stile des amerikanischen Kapitalismus zubewege.
Dieser Traum war nach dem 11. Sept 2001 rasch ausgetraeumt. Doch nicht nur der internationale Terrorismus hat Amerika und die Welt veraendert. Vor allem das oekonomische Gleichgewicht zwischen Ost und West hat sich dramatisch verschoben. Der Aufschwung Chinas und Indiens zu global einflussreichen Volkswirtschaften wird im Westen weiterhin ueberwiegend von eloquentem Alarmismus begleitet.
Wir befinden uns nicht nur in einer multipolaren Welt, sondern auch in einer Phase akzelerierter Globalisierung, die nicht mehr von einer einzigen Supermacht gesteuert wird. Jimmy Carters einstiger Berater Zbigniew Brzezinski hat kuerzlich in der NYT erlaeutert, warum die bipolare Konstellation USA-China nicht in einen globalen Krieg fuehren muss: Hegemonie sei schlicht unmoeglich geworden. Nicht jeder teilt Brzezinskis Optimismus.
Diese multipolare Globalisierung mit ihrer Respektlosigkeit gegenueber Grenzen, Identitaen und Traditionen wird oft als Bedrohung gesehen. Waehrend man sich an eine wachsende Internationalisierung von wirtschaftlichen und politischen Prozessen laengst gewoehnt hat, wird die kulturelle Globalisierung nicht nur von konservativen Strategen wie Samuel Huntington als Gefahr beurteilt. Debatten ueber Leitkultur in Deutschland, der Kopftuchstreit in Frankreich, das Aufkommen heftiger rechtspopulistischer Bewegungen vor allem in besonders innovativen europaeischen Gesellschaften wie Daenemark (Karikaturenstreit), den Niederlanden oder auch der Schweiz beweisen, dass kulturelle Offenheit nicht mehr unbedingt mehrheitsfaehig ist und zum Beispiel Einwanderung nicht allein mit multikultureller Toleranz bestritten werden kann.
Kulturelle Globalisierung wird nicht nur im Namen von Leitkultur, Tradition und Christentum abgelehnt, sondern auch auf der politischen Linken. Hier gilt die Ausbreitung westlicher Kulturwerte und –praktiken in anderen Weltregionen als Anzeichen fuer einen neuen Imperialismus. Mc Donalds (global mix) ist das Sinnbild fuer eine kapitalistische Hegemonie, die angeblich den Voelkern sogar das elementarste Beduerfnis raubt, jenes nach ihren Essgewohnheiten. Zudem wird eine Konvergenz zwischen den Kulturen beobachtet, mit dem Ergebnis des Verlustes von Diversitaet. Die Unesco hat tatsaechlich im vergangenen Jahr bekanntgegeben, dass alle zwei Wochen eine Sprache stirbt. Etwa die Haelfte der weltweit sechstausend gesprochenen Sprachen sei vom Verschwinden bedroht.
Das alles sind Anzeichen fuer eine Krise. Vertraute Verhaltens-, Entscheidungs- und Interpretationskriterien funktionieren nicht mehr. Krisen dieser Art gab es immer wieder, zum Beispiel mit dem Aufkommen der Moderne oder der amerikanischen Popkultur. Krisen stellen auch Instutionen infrage, Theorie und Praxis der Kultur. Sie enden in der Regel damit, dass sich ein neues Verstaendnis von Phaenomenen durchsetzt, also eine neue Theorie und eine neue Praxis. Wie wir aus der Geschichte wissen, verschwinden damit nicht automatisch bisherige Theorien und Praktiken. Oft werden sie erweitert oder ergaenzt.
Die Lage sowohl von Kuenstlern wie Kulturforschern erinnert an die von Kinogaengern, die sich zum wiederholten Mal einen Film ansehen. Sie kennen die Charaktere, die Schluesselszenen, den Ausgang. Diesmal laeuft der Film ploetzlich immer schneller. Man verliert die Orientierung. Wir sehen vertraute Sequenzen, aber auch unvertraute. Wir erkennen, der Film erzaehlt etwas Neues. Was, wissen wir nicht. Unsere Erinnerung hilft nicht. Wir verlassen – irritiert oder fasziniert – oder beides – das Kino und stellen nun obendrein fest, der Film geht weiter. Unsere Umgebung, wir selbst spielen mit. Niemand gibt Anweisungen. Wir muessen Rolle und Dramaturgie selbst finden.
Man kann diese Phaenomene auch aus einem anderen Blickwinkel betrachten, zum Beispiel dem des technologischen Fortschritts, des modernen Urbanismus, der Soziologie. Deswegen bleiben sie doch Phaenomene der kulturellen Globalisierung, denn Internet oder Stadtentwicklung sind von ihr ebenso betroffen wie das Theater oder die Gluecksspielindustrie. Daraus laesst sich schliessen, dass ein gemeinsames Nachdenken ueber sie sinnvoll ist. Man koennte sagen, dass sich in diesem Rahmen Kulturarbeiter unterschiedlicher Professionen und Herkunft fragen werden, welchen Film wir derzeit erleben. Oder: In welcher Kultur leben wir eigentlich?
Dieser Frage werden wir in den folgenden Kapitel nachgehen. Der Weg wird uns nach Dubai, Hong Kong du ins Internet fuehren, begleitet zum Beispiel von Gangnam Style und Romeo und Julia.