ZHdK Lectures on Global Culture: What Is the City but the People?
William Shakespeares Frage aus seinem Theaterstueck CORIOLAN ist im 21. Jahrhundert mindestens so relevant wie vor vierhundert Jahren.
In diesem zweiten Kapitel der Vorlesung WAS IST GLOBALE KULTUR? beschaeftigen wir uns mit der Rolle, die die Stadt in der kulturellen Gestaltung unserer Zeit spielt. Genau wie Shakespeare gehen wir von der Behauptung aus, dass die Stadt in erster Linie nicht aus Gebaeuden, Strassen und Plaetzen besteht, sondern aus Menschen: ihren Einwohnern und Besuchern.
Es hat den Anschein, als ob die Geschichte der Stadt seit einiger Zeit eine dramatische Wendung nehme. Ursache dafuer sind das rapide Wachstum der Weltbevoelkerung und eine damit einhergehende radikale Urbanisierung grosserer Territorien. Obwohl die Prognosen zur weltweiten Bevoelkerungsentwicklung von Quelle zu Quelle differieren, zeigen fast alle Untersuchungen einen Zuwachs bis zum Jahr 2100 auf 9 Milliarden Menschen oder mehr.
Zugleich gehen Experten davon aus, dass alle heute Neugeborenen, das heisst taeglich 140000 Babys, in der Zukunft in Staedten leben werden.
Auch die kontinentale Bevoelkerungsverteilung veraendert sich drastisch. Der Anteil der Europaeer und Nordamerikaner an der Weltbevoelkerung wird im Laufe der naechsten fuenfzig Jahren stetig zurueckgehen. Europa wird in 2050 nur noch 7 % der globalen Bevoelkerung stellen, und es wird im Vergleich dazu fast dreimal mehr Afrikaner und achtmal mehr Asiaten geben.
Kein Wunder, dass in der nichtwestlichen Welt grosse oeffentliche und private Anstrengungen unternommen werden, um fuer die neuen Menschen Staedte zu bauen. Die VR China hat vor wenigen Monaten ein Urbanisierungsprogramm fuer 300 Millionen ihrer Buerger angekuendigt. Staedte entstehen jedoch nicht am Reissbrett, und man darf sich die Migration von laendlichen Regionen in die Stadt nicht als einen geordneten und organisierten Umzug vom Dorf in eine Neubausiedlung vorstellen. In den letzten Jahren haben grosse Staedte ueberall auf dem Globus Menschenmassen aufgenommen, in vielen Faellen, ohne auf diese Invasion von neuen Bewohnern vorbereitet zu sein. Endlose Suburbs ohne geeignete Infrastrukturen sind entstanden, ein Mischmasch aus laendlichen und staedtischen Lebensbedingungen, die sich jeder vertrauten urbanistischen Einordnung entziehen. Der Begriff der Mega-City beschreibt einen Trend zur Superstadt, deren Wirklichkeit nicht mehr mit den staedtebaulichen Erfahrungen, wie wir sie aus den Vergangenheit kennen, in Einklang gebracht werden kann.
Das Tempo der Bauentwicklung, die Hoehe der Bevoelkerungszahlen, das Einzugsgebiet der neuen Bewohner oder die Komplexitaet der fuer das urbane Zusammenleben erforderlichen Infrastruktur sind Anzeichen dafuer, dass sich unser Verstaendnis davon, was eine Stadt ist, wie sie entsteht und sich entwickelt, rapide veraendert, ohne dass wir verlaessliche Vorsagen ueber die Stadt sogar der naeheren Zukunft treffen koennen.
Viele dieser Transformationen sind mit grossen Baumassnahmen und einem massiven Einsatz von Menschen und Kapital verbunden. Die vielleicht dramatischste Veraenderung, die durch diese Urbanisierungsprozesse hervorgerufen wird, ist jedoch viel weniger sichtbar. Dabei handelt es sich um die Behauptung und Umformung der kulturellen Identitaet einer Stadt und ihrer Bewohner. Gigantische Bauinvestitionen werden aufgewendet, um historische Quartiere zugunsten neuer Infrastruktur auszuradieren. Staedte tauschen ihre Rolle als Standorte industrieller Produktion in die von Dienstleistungszentren.
Marketing-Strategien zur Anwerbung von Menschen, Kapital und Kreativitaet vermitteln einen Eindruck davon, inwieweit die Stadt selbst zur Ware geworden ist. Geniesst Shakespeares Frage deshalb den Status eines Werbeslogans?
Die Antwort ist sicherlich „Ja“, aber kein ausschliessliches „Ja“. Die Kultur einer Stadt, die Geschichte ihrer Einwohner, die Legenden und Anekdoten, die deren spezifischen Charakter illustrieren, dies alles ist auch der Stoff, aus dem sich Konzepte formulieren lassen, um Touristen oder Kaptal anzulocken.
Zugleich ist die Kultur einer Stadt ein filigranes und sensibles Oekosystem, das auf Ein- und Abwanderung, Gentrifizierung, Tourismus, wirtschaftlichen Auf- und Abschwung oft mit unvorhersehbaren Konsequenzen reagiert. Viele der wichtigsten wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Prozesse unserer Zeit ereignen sich in unseren Staedten. Je nachdem, wie stark sie ihnen ausgesetzt sind, in milder oder krasser Form. Alle diese Prozesse sind unmittelbar Folge dessen, was wir landlaeufig Globalisierung nennen. (Hindi, global mix)
Die Stadt des 21. Jahrhunderts ist daher auch das Labor der kulturellen Globalisierung. Manche Versuche, die in diesem Laboratorium unternommen werden, muten bizarr an, andere vernuenftig. Die Aktivitaeten des Labors beunruhigen und faszinieren gleichermassen.
Es gibt Staedte, die aufgrund ihrer wirtschaftlichen Spezifik, der Eigenart ihrer Demografie oder ihrer klimatischen Bedingungen den Laborcharakter der Stadt von heute und morgen exemplarisch verkoerpern. Das Leben in diesen Staedten spitzt die Widersprueche und Annahmen, die wir ueber die Zukunft treffen, in besonderem Masse zu und legt Prozesse offen, die in „normalen“ Staedten oftmals unsichtbar bleiben.
Die Stadt Dubai ist eine solche exemplarische Stadt. Sie verkoerpert zweifelsohne Extreme klimatischer, sozialer oder oekonomischer Bedingungen, die sich nicht auf andere Staedte uebertragen lassen. Diese Extreme sind jedoch auch das Ergebnis einer besonders radikalen Globalisierung. Als solche verdienen sie sehr wohl eine genau Betrachtung. Wenn wir die Entwicklung von neuen Staedten verfolgen, sollten wir einerseits nicht vergessen, dass sie ihren Buergern beispielsweise nicht dieselben Rechte einraeumt wie Staedte in westlichen Laendern. Wir sollten uns aber andererseits auch daran erinnern, dass diese Rechte das Ergebnis eines langen sozialen Prozesses gewesen sind, den neue Staedte noch vor sich haben. Die Geschichte europaeischer Staedte illustriert, dass dieser Prozess oftmals gewaltsam verlaeuft. Die zentrale Frage fuer Staedte des 21. Jahrunderts wie Dubai besteht deshalb darin, wie ein friedliches und gerechtes Zusammenleben auf Dauer organisiert werden kann. Da Menschen in diesen Staedten anders zusammenleben als etwa in Berlin oder New York, muessen sie auch neue Wege gehen, um die Stadt zu ihrer Stadt umzuformen.
Die folgenden Beobachtungen ueber die ungewoehnliche, extreme Stadt Dubai beruhen auf diesen beiden Annahmen: dass Dubai eine unfertige Stadt ist, mit Maengeln und Chancen, und dass Dubai ein Labor ist, an dem sich wie durch ein Vergroesserungsglas soziale und kulturelle Ereignisse verfolgen lassen, die von den durch die Globalisierung hervorgerufenen Transformationen zeugen, welche in der einen oder anderen Form auch bei uns stattfinden.
Um den Sonderstatus von Dubai zu verstehen, lohnt sich ein Blick auf die Landkarte.
Umgeben von Staaten wie Jemen, Pakistan, Afghanistan, Iran, Irak oder Saudi Arabien, widerspiegelt das Golfemirat zweifelsohne ein anderes gesellschaftliches Konzept als seine Nachbarn. In einer Landschaft, die gepraegt ist von religioesem Fanatismus und politischer Instabilitaet ist ein Ort entstanden, in dem Menschen verschiedener Konfessionen und Kulturen immerhin friedlich zusammenleben.
Wie ist das moeglich geworden? Zu Recht ist immer wieder auf den Oelreichtum der Region hingewiesen worden. Dubai gehoert mit sechs weiteren Bundesgenossen den Vereinigten Arabischen Emiraten an. Die VAE belegen unter den oelexpoertierenden Staaten der OPEC Platz Numer 4. Bei genauerer Betrachtung stellt sich jedoch heraus, dass der Loewenanteil der Produktion an Erdoel und –gas im groessten Emirat Abu Dhabi angesiedelt ist. Dubai verfuegt nur noch ueber geringfuegige Ressourcen.
Als in den 50er und 60er Jahren die grossen Oelvorkommen in der Region entdeckt wurden, zeichnete sich bereits ab, dass der Reichtum von Dubai von kurzer Dauer sein wuerde. Der damals herrschende Scheich Rashid Al Makhtoum erklaerte seinen Untertanen, dass es sich bei den Funden auf ihrem Land um ein Geschenk Allahs handele. Allah erwarte von den Glaeubigen in Dubai im Gegenzug, dass sie sich aus der Armut des Beduinenlebens befreiten, indem sie den neuen Reichtum darauf verwendeten, eine moderne Gesellschaft aufzubauen. So Scheich Rashid zu seinen Leuten.
Tatsaechlich gelang in den folgenden Jahrzehnten Dubai eine bis dato auf der arabischen Halbinsel nie dagewesene Diversifizierung der Wirtschaft, begleitet von einem erstaunlichen Wachstum.
Ende des letzten Jahrzehnts hatte sich die einst wirtschaftlich rueckstendigste Region der arabischen Welt zum Spitzenreiter emporgearbeitet. Dubai belegte weltweit Platz 5 der Tourismusbranche, verfuegte ueber einen der groessten Flughaefen und ausserdem einen der groessten Containerhaefen der Welt und ueber ein funktonierendes globales Finanzzentrum. Dank „Allahs Geschenk“ war Dubai zu einer Drehscheibe zwischen dem Westen auf der einen Seite und Asien/Afrika auf der anderen geworden wie es keine zweite gab.
Doch hatte sich Scheich Rashid bei diesem Aufschwung nicht ausschliesslich auf den Oelreichtum verlassen. Der beduinische Stammesfuerst wusste sehr wohl, dass man eine Stadt nur mit Menschen bauen kann, mit vielen talentierten und motivierten Menschen. Die Beduinen waren ein kleines Voelkchen.
60 000 zaehlte die Bevoelkerung der Stadt 1968. Heute leben in Dubai ungefaehr so viele Menschen wie in Muenchen: 1.2 Mio. Von den Millionen Touristen und Geschaeftsleuten zu schweigen.
Schnellwachsende Staedte sind kein Sonderfall des Mittleren Ostens. In China oder Indien zum Beispiel sind zur selben Zeit Staedte entstanden, die zehnmal groesser sind als Dubai.
Ein wesentlicher Unterschied besteht jedoch darin, dass in China die Menschen einfach vom Land in die neue Stadt migrierten. Jedoch gab und gibt es selbst in der weitest moeglichen territorialen Umgebung von Dubai nichts als eine unbarmherzige und menschenleere Wueste.
Die Einwanderer Dubais, ganz gleich, ob Bauarbeiter oder Banker, Putzfrau oder Immobilieninvestor, kamen also alle mit dem Flugzeug ueber Sand und Meer. Sie kamen aus allen Himmelsrichtungen. Sie brachten ihre Familien mit sich, ihre Religion, ihr Hab und Gut, ihre Kultur. Bald waren die Einwanderer die Mehrheit gegenueber der kleinen einheimischen Bevoelkerung. Inzwischen machen die Emiraties nur noch weniger als zehn Prozent der Gesamtbevoelkerung aus, umgeben von Indern, Chinesen, Russen, Amerikanern, Australiern oder Europaern. Dubai wurde zum Inkubator einer neuen kulturellen Erfahrung: die Welt, versammelt an einem Ort. Die beduinische Kultur erwies sich als zu schwach, um gegenueber dem Ansturm der fremden Hochkulturen sowohl des Westens als auch Asiens so etwas wie eine Leitkultur zu bilden. Waehrend sich Westeuropa die Frage stellt, wie Auslaender am besten integriert werden koennten, ging und geht es in Dubai darum, die Einheimischen zu integrieren. Mehr dazu in unserem naechsten Kapitel.