Michael Schindhelm | PUBLICNESS, OBSCURITY AND ARTISTIC INTERVENTION

Publicness, Obscurity and Artistic Intervention

Vor nahezu vierzig Jahren hatte Richard Sennett in „The Fall of Public Man“ den Niedergang der oeffentlichen Gesellschaft diagnostiziert. Die Implosion der Oeffentlichkeit habe eine Tyrannei der Intimitaet zur Folge, so Sennett. Das war zwei Jahrzehnte vor dem Launch der Fernsehserie Big Brother. GSM-faehige Mobiltelefone, spaeter Symbol fuer die epidemische Ausbreitung des Privaten im oeffentlichen Raum, kamen erst in den fruehen Neunzigern auf den Markt.
Es laesst sich wohl kaum behaupten, die Krise der Oeffentlichkeit sei ueberwunden. Dafuer gibt es auch keinen Grund. Denn Oeffentlichkeit ist Krise. Eine Oeffentlichkeit ohne Krise waere wie eine Truman-Show ohne Truman. Der oeffentliche Raum hat sich seit The Fall of Public Man dramatisch veraendert, und es duerfte schwerfallen, ein eindeutiges Urteil darueber abzugeben, ob er sich zu unserem Nach- oder Vorteil veraendert hat. Vermutlich zu beidem. Immerhin hat sich die Domaene der Oeffentlichkeit vor allem durch die Erschliessung des virtuellen Raumes vergroessert. In diesem Ausdehnungsprozess hat sich auch der Charakter des Oeffentlichen selbst gewandelt. Zweifelsohne ist das Internet eine grossartige Errungenschaft, vergleichbar mit der Elektrifizierung der Alltagswelt im neunzehnten Jahrhundert. Und zurecht haben seine Erfinder immer wieder auf dessen demokratische Natur hingewiesen.

Zugleich beobachten wir eine neue Ambivalenz zwischen zwei Grundrechten: dem Recht auf individuelle Freiheit und dem auf soziale Sicherheit. Der Umgang mit persoenlicher Freiheit hat sich auch in hochentwickelten Demokratien als ein Problem erwiesen, insbesondere, seitdem soziale Gerechtigkeit offenkundig immer schwieriger herzustellen ist. Aber was waere eine befriedigende Balance zwischen Freiheit und Kontrolle in einer Welt von sieben Milliarden Menschen, die technologisch gesehen ein globales Dorf ist, sozial gesehen jedoch ein Universum. Die Staaten der EU beispielsweise muehen sich intern um Integration, waehrend sie sich nach aussen abschliessen. Hunderte von Millionen Menschen wandern in Asien, Afrika und Suedamerika temporaeren Arbeitsangeboten hinterher. Die Zentren unserer Staedte sind nahezu vollstaendig durch Videokameras ueberwacht, die Kriminalitaet nimmt trotzdem zu. In seinem Buch „Freedom for Sale“ entwirft der britische Journalist John Kampfner das Bild einer Gesellschaft, die ihre freiheitlichen Rechte immer mehr zugunsten von Sicherheitsmassnahmen aufgibt. Kampfner zitiert Benjamin Franklin: Wer seine Freiheit fuer ein bisschen Sicherheit hingibt, verdient weder die eine, noch die andere.

Die Krise der Oeffentlichkeit erstreckt sich auch auf die neuen Formen des oeffentlichen Raumes, das Internet und die sozialen Netzwerke. Wenn ich im folgenden darueber kritische Beobachtungen anstelle, dann keineswegs, weil mir der Optimismus fehlt. Im Gegenteil. Die Krise ist der Oeffentlichkeit wie gesagt wesensimmanent. Indem wir auf Schwaechen hinweisen, ermoeglichen wir deren Ueberwindung. Wo dies vorlaeufig nicht moeglich ist, hilft eine Diagnose immerhin dabei, mit Problemen besser zu leben, bis sich Loesungen fuer sie gefunden haben.

Wie eben erwaehnt, hat sich mit der Ausdehnung des oeffentlichen Raums in die Virtualitaet hinein auch der Charakter der Oeffentlichkeit gewandelt. Gerade weil sie neu sind, beschreiben diese Medien und unser Umgang mit ihnen ein zentrales Paradoxon, mit dem wir uns beschaeftigen muessen, wenn wir die Rolle der Kunst im oeffentlichen Raum diskutieren. Man muss nicht mit Sennett von einer Tyrannei des Intimen reden, um dennoch zu konzedieren, dass sich die Grenzen zwischen dem, was Menschen fuer sich behalten wollen, und dem, was sie oeffentlich ueber sich preisgeben, mit der wachsenden Medialitaet des Alltags dramatisch verschoben haben. Die einsit strikte Trennung von Oeffentlich und Privat hat nur noch behelfsmaessigen Charakter. Wir leben nicht mehr entweder im Schatten der Privatsphaere oder im Schlagschatten der Oeffentlichkeit, sondern in einer Grauzone, in der weder Privatleben wirklich privat, noch Oeffentlichkeit tatsaechlich oeffentlich ist.

Bevor ueber die Moeglichkeiten der Kunst gesprochen werden kann, in dieser Grauzone zu intervenieren, oder zu klaeren, was Intervention ueberhaupt heissen koennte, muss die dynamische Ausbreitung der Zone selbst kurz beleuchtet werden.

Facebook und andere soziale Netzwerke haben bekanntlich in der juengsten Vergangenheit bislang ungeaehnte Moeglichkeiten oeffentlicher Kommunikation erschlossen und zum Beispiel Protestdemonstrationen oder Hilfsaktionen mobilisiert oder Interessensvertretungen von Communities oder Minderheiten geschaffen. Sie haben aber auch fuer einen massenhaften Austausch von Privatauskuenften in der obskuren Oeffentlichkeit elektronischer Medien gesorgt und die Tyrannei der Intimitaet verstaerkt. (Kaum eine Banalitaet, die nicht auf einem Foto festgehalten und in den Aether verbreitet wird.) Was aber fuer den Informationsmarkt wichtiger ist: Millionen von Nutzern oder sogenannten Freunden haben freiwillig unzaehlige persoenliche Daten an Facebook ausgeliefert.

Inzwischen hat Facebook ein Instrument entwickelt, mit dem sich die Freigiebigkeit zur Selbstauskunft unermesslich steigern laesst: die Suchmaschine Graph Search. Gut moeglich, dass aus Graph Search eine Suchtmaschine wird. Man stelle sich vor, was passiert, wenn Google die persoenlichen Profile von Facebook-Freunden analysiert und mit den ungezaehlten Profilen andere Nutzer auf dem Globus vergleicht und verknuepft. Das genau bewirkt Graph Search. Die neue Suchmaschine ist erst vor wenigen Wochen eingefuehrt worden und findet erwartungsgemaess bereits virales Interesse.

Soziale Netzwerke wie Facebook/Graph Search koennte man als Inkubatoren von neuen Grauzonen beschreiben. Auch wenn sich solche Netzwerke zur Verteidigung von Meinungsfreiheit oder zur Foerderung von Solidaritaet benutzen lassen, sie stellen zugleich ein anderes Menschenrecht infrage, das auf Privatsphaere. Gemaess Privacy International, einer Menschenrechtsorganisation mit Sitz in London, die jaehrlich den Big Brother Award an Organisationen verleiht, die die Privatsphaere besonders eklatant verletzt haben, ist das Menschenrecht auf Privatsphaere ohnehin in den meisten Laendern weltweit bedroht. Einem ausgekluegelt berechneten Index von Privacy International zufolge gehoeren zum Beispiel die USA und Grossbritannien in die gleiche Kategorie wie Russland und China, naemlich zu den sogenannten „endemischen Ueberwachungsgesellschaften“. Die Schweiz wird von Privacy International als ein Land mit abgeschwaechtem Schutz der Privatsphaere eingeschaetzt.

Natuerlich haben Facebook und seine Suchmaschine Graph Search nicht allzu viel mit den sinistren Kontrollsystemen gemein, die Staatsorgane anwenden, um ihre Buerger zu bespitzeln und deren Privatleben einzuschraenken. Es ist schliesslich der Facebook-Freund selbst, der ueber sich Auskunft erstattet. Er entscheidet, was er einer anonymen Oeffentlichkeit ueber sich mitteilt und was er von ihr fernhaelt. Er entscheidet damit auch, inwieweit er die Wahrheit ueber sich preisgibt oder lieber seiner Sehnsucht nach einer Legende oder einer Phantasie-Existenz freien Lauf laesst.

Graph Search koennte sich also in erster Linie als ein neues oeffentliches Spiel mit der Indentitaet entpuppen, eine Art globaler Karneval. Die Suchmaschine koennte unter anderem die Kreativitaet von Nutzern sozialer Netzwerke im Erfinden von alternativen, virtuellen Lebensentwuerfen und –beziehungen stimulieren. Wenn es erlaubt ist, alles ueber sich preiszugeben, kann man auch preisgeben, was man nicht ist, aber gerne waere oder auf keinen Fall sein moechte. Insofern traegt diese Suchmaschine nicht nur zur Enthuellung der Privatsphaere bei, sondern auch zur Wiederverschleierung enthuellter Privatsphaere.

Der hier dargestellte Konflikt zwischen dem Recht auf freie Meinungsaeusserung und dem auf Schutz der Privatsphaere hat weitreichende Implikationen. Bisher haben zum Beispiel Spielregeln gegolten, welche Art von Meinung schuetzenswert ist und welche nicht. Oder welche sogar verboten werden muss. Diffamierende oder unwahre Meinungen etwa.

In einer grauen Oeffentlichkeit, in der getuerkte und echte Identitaeten nebeneinander existieren, wird es erheblich schwieriger sein, solche Spielregeln anzuwenden oder neue, angemessene zu erfinden. Sicherlich eignet sich Graph Search als Instrument der Marktanalyse fuer die e-Wirtschaft. Die Statistik arbeitet mit der grossen Zahl, und die grosse Zahl der Facebook-Freunde wird vermutlich zutreffende Selbstauskunft geben. Doch alle Information, die vom Trend der grossen Zahl abweicht, ist mit Vorsicht zu geniessen. Wer sich in der scheinoeffentlichen Grauzone von Graph Search outet, „anders“ zu sein, muss sich gut ueberlegen, welche Konzequenzen das haben kann. Er wird nicht nur von Seinesgleichen gesehen, sondern auch von seinen potentiellen Feinden, auch wenn sie als Facebook-Freunde bezeichnet werden.

Politische Systeme mit eingeschraenkter Privatsphaere neigen dazu, oeffentliche Schweinwelten zu generieren. Staatlich organisierte Manifestationen gehoeren ebenso zum Repertoire solcher Gesellschaften wie der maskierte Einzelne, der sich auf Strassen und Plaetzen bewegt, ohne sein wahres Gesicht zu zeigen. Bedrohte Privatsphaere fuehrt zur Konspiration.

Angesichts der laut Privacy International global wachsenden Unsicherheit der Privatsphaere ist davon auszugehen, dass die Grauzone des oeffentlichen Raumes auch in Demokratien zur Konspiration tendiert. Eine Gesellschaft, die ein Problem mit der Privatsphaere hat, hat auch eines mit der oeffentlichen Sphaere. Sie lebt mit und in „Obscurity“.

Bereits Sennett hatte die fortschreitende Kommerzialisierung fuer den Verfall veranwortlich gemacht. Die Kapitalisierung des oeffentlichen Raumes fuehrt zunaechst zu seiner Spaltung in Kaeufer und Verkauefer, dann zu einem Ausschluss derjenigen, die nicht kaufen oder verkaufen (koennen).

Wie die obskure Oeffentlichkeit ist die Kunst ein Geschaeft und damit eine Selektionsprojekt, in dem Kaeufer, Verkaeufer und Nicht-Kaefer bzw Nicht-Verkaeufer unterschieden werden.  Sie ist uebrigens auch obskur, denn sie ist nicht ausschliesslich ein Geschaeft. Oft strebt sie nach einer Anerkennung, die ueber den Markt hinaus geht. Sie will politisch, sozial oder aufklaererisch wirken und fuer diese immateriellen Leistungen anerkannt werden. Sie ist oeffentlich und privat zugleich.

Die Dialektik kommerzieller und immaterieller Interessen der Kunst beherrscht auch den Diskurs um ihre Bedeutung fuer den obskuren oeffentlichen Raum. Dieser Diskurs geht unter anderem zurueck auf einige wesentliche Denkanstoesse aus der Zeit zu Beginn der Moderne und waehrend ihrer spaeteren Entfaltung, die zunaechst kurz in Erinnerung gerufen werden muessen.

Mit dem weltweiten Aufkommen des korporativen Kapitalismus begannen Intellektuelle damit, zentrale Begrifflichkeiten zu ueberdenken. Zum Beispiel die Rolle des Kuenstlers in der Gesellschaft oder die der Institution (Museum, Theater, Universitaet etc). Walter Benjamin sah in den modernen Reproduktionstechniken wie z.B. Foto und Film fuer die Zukunft der Kunst sowohl eine Gefahr als auch eine Chance. In seinem 1936 erstmals erschienen Werk „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ konzedierte er den damals relativ neuen Medien, dem Kunstwerk durch eine massenhafte Reproduktion zu einer aesthetischen Emanzipation zu verhelfen. Zugleich wies er das Problem einer politischen Vereinnahmung hin, die sich aus denselben technischen Moeglichkeiten ergab. Benjamin dachte dabei vor allem an den Faschismus.

Schon in seinem 1929 erschienen Aufsatz „Der Suerrealismus. Die letzte Momentaufnahme der europaeischen Intelligenz“ hatte Benjamin die Moeglichkeit einer Errettung der Aura des Kunstwerks trotz seiner massenhaften Verbreitung behandelt: auf dem Wege der Erleuchtung. Der erleuchtete Revolutionaer, so Benjamin, sei der Flaneur: „Der Leser, der Denkende, der Wartende, der Flaneur sind ebenso wohl Typen der Erleuchteten wie der Opiumesser, der Traeumer, der Berauschte.“

Diese metaphysische Konzeption der Aura und des Flaneurs haben die Studentenbewegung von 1968 nicht daran gehindert, Benjamin und seine Schriften ueber die Zerstoerung der Aura und die Erleuchtung des Flaneurs zum Kultgegenstand der 68er-Bewegung zu machen. Vor allem seine Kritik an der Aesthetisierung der Politik und die Kennzeichnung des revolutionaeren Typus des Akteurs boten theoretische Grundlagen fuer den Protest.

Zwanzig Jahre vor Benjamins Arbeiten hatte Marcel Duchamp mit den ersten Readymades das Kunstwerk bereits seiner „klassischen“ Aura enthoben. Das Rad eines Fahrrads oder ein Urinoir konnten Duchamps Auffassung nach den gleichen Kunstwerkcharakter fuer sich beanspruchen wie Leonardos Mona Lisa. Die darin enthaltene Aussage, jeder Gegenstand kann Kunst sein, erweiterte ein halbes Jahrhundert darauf die Pop-Art zu der Maxime: Jede Ware ist ein Kunstwerk, jedes Kunstwerk eine Ware. Die massenhafte Verbreitung von Waren und Kunst(kopien) hatte eine Unterscheidung zwischen beiden angeblich obsolet gemacht. Andy Warhol: „Being good in business is the most fascinating kind of art“.

Bekannlich wurden nicht ploetzlich alle Campbell-Suppenbuechsen bei Christie’s versteigert und in die Sammlungen von Museen einverleibt, sondern stattdessen stieg einerseits die Aktie Warhol und wurden andererseits kontextuelle Theorien entworfen. Der Status der Kunst hatte sich grundsaetzlich veraendert. Sie war ploetzlich weder oeffentlich noch privat, sondern beides, weder kommerziell noch ideell, sondern ein Sowohl-als-Auch. Sie war von nun an von obskurer Beschaffenheit.

Der Diskurs um die Rolle der oeffentlichen Kunst laesst sich nicht ohne ihr Verhaeltnis zu jenem Raum denken, fuer den sie bis vor hundert Jahren nahezu ausschliesslich gedacht war: das Museum. Bis zu jenem Zeitpunkt war die relativ junge Institution des Museums ein Organ der Machtausuebung und Kontrolle. Das Museum schuetzte das Wahre, Gute und Schoene vor der Luege, dem Boesen, dem Haesslichen. Mit dem Aufbruch der Moderne mehrte sich der Widerstand gegen die Geschmacksdiktatur des Museums. Die verschiedenen Sezessionen waren immer getrieben von der Sehnsucht nach Entgrenzung, vom Kampf gegen die ehrwuerdigen Mauern der Institution und ihrer Selektionspraktiken.

Die Kunst zog also aus dem Museum aus und eroberte eine neue Topographie. Jenseits des Museums trafen die Kuenstler auf zwei miteinander konkurrierende und zugleich sich ueberlagernde Domaenen: den Markt und den oeffentlichen Raum. Die Ueberwindung des Museums fuehrte daher zu einem paradoxen Doppelerfolg: dem des (Kunst)Marktes sowie dem der (Kunst)Oeffentlichkeit. Die Kunst entschied sich fuer beides: fuer Emanzipation und fuer Vereinnahmung.

Die scheinbar ueberwundene Institution gab sich jedoch nicht so leicht geschlagen. Das Museum erwies sich naemlich als eine flexiblere Institution als seine Feinde erwartet hatten. Man koennte sagen, es nahm die Verfolgung auf. Ueberall dort, wo sich die Kunst niederliess, in Industriegebaeuden, auf oeffentlichen Plaetzen, in Privathaeusern, fand allmaehlich ihre Re-Institutionaliserung statt. Das Ergebnis war nicht in jedem Fall ein Museum, aber die erneute Organisation von Kontrolle und Selektion von Gut und Schlecht. Je energischer die Kunst in die Lebensbereiche des Alltags vordrang und zugleich Themen wie Politik, Medizin, Werbung, Popkultur oder Sport eroberte, je mehr sich die mediale Grenze zwischen gemachter und urspuenglicher Wirklichkeit aufloeste,  umso eloquenter erklaerte das Museum neue Themen und Raeume zu seinem Verbreitungsgebiet.

Eine aehnliche Richtung laesst sich auch bei anderen Kuensten beobachten: Theatermacher entdecken den performative Reichtum der realen Gesellschaft und verlegen ihre Projekte in die Stadt. Schriftsteller werden zu reisenden Dokumentaristen des Urbanen, ebenso Filmemacher oder Fotografen oder selbst Komponisten. Mit ihrem jeweiligen Aufbruch haben sie stets nicht allein das Paradigma ihrer schoepferischen Arbeit veraendert, sondern auch die Grenzen jener Institution, in denen sich ihre Arbeit entfaltet und diese beurteilt wird, verschoben.

Die Verortung der Kunst (des Theaters, der Literatur, des Films etc) im Markt ist ausfuehrlich beschrieben worden. Auffaellig ist, dass Gegenwartskunst aehnlich wie z.B. Gold und Immobilien und anders als Aktien fuer neue Technologien ein stabiles und offenbar relativ krisenfestes Investment darstellt. Moeglicherweise ist es gerade die Obskuritaet der Kunst, nicht ausschliesslich Ware zu sein, sondern zudem eine sogenannte „hoehere“, ideelle Ebene zu erschliessen, dem sie ihren verlaesslichen Marktwert verdankt. Diese „ideelle“ Ebene verhindert den raschen moralischen Verschleiss der Investition und garantiert Wert-Stabilitaet.

Dassselbe Doppelspiel der Obskuritaet findet statt, sobald die Kunst die Oeffentlichkeit betritt. Jedoch wird es gewissermassen aus der entgegengesetzten Richtung gespielt. Ausstellungen sind in der Regel dann ein grosser Erfolg, wenn sie materiell oder wenigstens publizistisch erfolgreiche Kuenstler ausstellen. Viele Besucher werden nicht unbedingt durch die Kunstwerke selbst angezogen, sondern durch die Fama von Reichtum, Exklusivitaet und Startum. Man nimmt gerne in Kauf, in langen Schlangen anzustehen, um Warhol, Koons oder Hirst zu sehen. Ausstellungen dieser Art werden bereits viele Monate im Voraus angekuendigt, ganz wie die Konzerte von Popgroessen.

Der oeffentliche Raum ist schon in frueheren Zeiten als offenes Museum oder Theater betrachtet und benutzt worden. Der Umbruch der staedtischen Funktionen mit dem Wechsel von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft hat jedoch urbane Strukturen massiv transformiert. Zeitgenoessische Stadtplanung hat oft erfolgreich Territorien fuer die oeffentliche Stadt zurueckgewonnen, die lange Zeit brach gelegen haben. Das offene Museum bzw. Theater des oeffentlichen Raumes ist deshalb in vielen Staedten zu einem gigantischem Volumen angewachsen. Grosse Raeume verlangen nach Bigness. Was der Architekt Rem Koolhaas vor einigen Jahren als Triebkraft fuer die Designentwicklung seiner eigenen Branche beobachte, eben Bigness, laesst sich inzwischen auch auf die Kunst uebertragen. Der Gegenstand der Kunst ist ihre eigene physische Groesse. Insbesondere, wenn sie sich an die Masse auf den oeffentlichen Plaetzen richten darf, waechst sie ins Monumentale. Zum Beispiel werden Installationen von Koons, Eliasson oder Kapoor nicht mehr betrachtet, sondern koerperlich erlebt, sie sind spatiale Metaphern fuer die Einverleibung des Betrachters in das Objekt der Betrachtung. Aehnliches liesse sich ueber die multimedialen Shows des Cirque du Soleil und seiner Nachahmer sagen. Grosskonzerte wiederum beeindrucken durch eine raumgreifende Licht- und Audiotechnologie,  Literaturfestivals messen ihren Erfolg an der Anzahl der Schriftstellerlesungen. (Und jeder zaehlt natuerlich das Publikum und die Einnahmen.)

Die Kuenste haben sich in den zurueckliegenden Jahren erfolgreich in einer obskuren Oeffentlichkeit eingerichtet. Ihre Auftraggeber sind private Sammler oder Museumskuratoren, die mit dem ideellen Wert ihrer Ankaeufe ebenso spekulieren wie mit dem Warenwert. Nun liesse sich vermuten, es muesste neben der obskuren auch die rein oeffentliche Kunst geben, Kunst also, die direkt von der Oeffentichkeit (in Deutschland: die oeffentliche Hand) erworben wird, um die soziale Kommunikation im oeffentlichen Raum zu befoerdern. Dieser Art Kunst wird von Planern oft als kuenstlerische Intervention bezeichnet. Unter Intervention ist also haeufig ein Eingriff in eine bestehende materielle Topographie der Stadt zu verstehen. Zu diesem Zweck gehen die oeffentliche Gesellschaft (vertreten z.B. durch die Stadtverwaltung, einen staatlichen Investor etc) mit dem Kuenstler eine Partnerschaft ein. Intervenieren soll die so kommissionierte Kunst zum Beispiel gegen das Vergessen (Erinnerungskultur), Xenophobie und andere soziale Probleme, aber auch gegen Zerstoerung, Verschandelung, Behinderung der Stadt etc.

Der Kuenstler wird also zum Agenten der oeffentlichen Hand. Inwieweit agieren nun aber eine Stadtverwaltung  oder ein staatlicher Investor im oeffentlichen Interesse der staedtischen Bevoelkerung und inwiefern kann bei derartigen Kunstwerken tatsaechlich von Interventionen gesprochen werden, die im Interesse des lokalen Gemeinwesens geschehen?

Um diese Frage zu beantworten, muessen wir uns kurz der Entwicklung der Stadt zuwenden. Tatsaechlich lassen Statistiken zur Kulturfinanzierung und –investition erkennen, dass Staedte heute weltweit Hauptauftraggeber von Kunstinterventionen sind. Die Stadt ist deshalb die eigentliche Arena, in der der Diskurs ueber die Rolle der oeffentlichen Kunst verhandelt wird. Der Begriff Stadt ist natuerlich keineswegs beschraenkt auf deren physische Topographie, sondern bezieht sich zugleich auf ihre Bevoelkerung, ihre Besucher, Investoren, Organisationen und schliesslich auf den virtuellen Raum des Internets  und der sozialen Netzwerke.

Natuerlich steckt auch die Stadt in einer Grauzone zwischen oeffentlichen und wirtschaftlichen Interessen. Laengst ist sie selbst zur Ware geworden, ein zirkulierendes Brand, mit dem Touristen, internationales Kapital und die sogenannte kreative Klasse der Dienstleister umworben werden. Staedte stehen heute in einem globalen Wettbewerb um Arbeitsplaetze, Hotelkapazitaeten, Investitionen, Kreativitaet. Kunstwerke und –anlaesse, von der Stadt initiiert und in Auftrag gegeben, dienen stets in der einen oder anderen Form diesem Wettbewerb. Der kuenstlerische Interventionist ist also ein Agent obskurer Interessen. Sie koennen dem Gemeinwesen dienen, muessen aber nicht. Zumindest indirekt werden harte und doch hybride oekonomische Interessen verfolgt.

Schon seit den achtziger Jahren bemuehen sich Kultureinrichtungen in Europa (insbesondere Deutschland) darum, ihren Anspruch auf staatliche (meist staedtische) Finanzierung, ohne die sie nicht ueberleben koennten, mit dem sogenannten Standortvorteil zu begruenden, den die Kultur in einer Stadt bietet. Aehnlich argumentieren die Veranstalter von oeffentlichen Events oder fuer die Stadtteilkultur zustaendige Urbanisten, Kunst im oeffentlichen Raum staerke zum Beispiel die Lebensqualitaet eines Gemeinwesens. Tatsaechlich spielt Lebensqualitaet im Wettstreit um auswaertige Investitionen (Direct Foreign Investment) eine erhebliche Rolle.

So sorgen die von global agierenden Beratungsunternehmen entwickelten Staedte-Rankings eine auf den ersten Blick abstruse Geografie der Lebensqualitaet zwischen Los Angeles und Kabul, Zuerich und Lagos. Gleichwohl werden diese Rankings sowohl von Stadtmarketieren als auch Investitionsanalysten hoch geschaetzt. Es besteht nicht zufaellig eine haeufige Korrelation zwischen Ranking und Immobilienpreisen. Lebensqualitaet ist teuer. Top-Positionen sind auch nicht auf lange Sicht garantiert. Staedte geraten in und out. Das neue Kapital, materiell oder intellektuell, kennt weder Wurzeln noch Treue. Es kommt und geht, je nach Marktlage und privatem Interesse.

Waehrend sich Staedte also um Kapital und Menschen von aussen bemuehen, muessen sie sich daheim um den sozialen Frieden kuemmern. Denn waehrend das neue Kapital die Stadt in ihrem Charakter veraendert, neue Stadtteile baut, eine global angepasste Kultur einfuehrt, sieht die einheimische Bevoelkerung ihre Identitaet und die ihrer Stadt bedroht. Die in den meisten Staedten dominante Mehrheit von staendigen  Einwohnern fuehlt sich oft von den Technokraten einer Stadtverwaltung allein gelassen und entwickelt selbst Strategien, mit denen der angeblich authentische Charakter ihrer Lebenswelt verteidigt werden soll.

Die Transformation der Stadt von einem relativ homogenen Gemeinwesen zur urbanen Plattform von hoher Mobilitaet und geringer Integration zwingt heute vielerorts zu einer neuen Interpretation dessen, was eine Stadt lebenswert macht. Nachdem die Stadt immer mehr in (teilweise freiwillig) segregierte Communities zerfaellt, zerbricht sich die zeitgenoessische Urbanistik (und natuerlich nicht nur sie) unter anderem den Kopf darueber, wie Gentrifizierung und Desintegration eingeschraenkt und moderiert werden koennen. In gewissem Sinne wird dadurch Urbanistik wieder zu einem kapitalismuskritischen Soziologieprojekt.

Der marxistische Soziologe Henri Lefebvre hatte in seinem in den sechziger Jahren erschienen Buch „La droit a la ville“ unter anderem das Recht des Stadtbewohners auf Anwesenheit, Aneignung, Differenz, Zugang und Anteil am schoepferischen Ueberschuss der Stadt gefordert, unabhaengig davon, welchen sozialen Status dieser Bewohner sonst inne habe. Dabei ging es ihm nicht allein um ein individuelles Menschenrecht, sondern um die fundamenale Fragestellung, wie sich eine Gesellschaft veraendern kann, indem sie die Stadt veraendert.

Schon Ende der fuenfziger Jahre provozierten Vorlaeufer der spaeteren Bewegung des Situationismus mit urbanen Interventionen eine Neuinterpretation der Stadt. Vor allem die Ausstellung „New Babylon“ des hollaendischen Kuenstlers, Musikers und Architekten Constant (Constant Nieuwenhuys) nimmt bereits die aktuelle Problematik vorweg. Constant hatte das Konzept einer Stadt fuer den arbeitslosen, der Automatisierung der Warenproduktion geopferten Menschen entworfen, der laut Constant (und mit Verweis auf Huzinagas „Homo ludens“) der spielerische, mobile Mensch sei. Er schlug den Abriss der Amsterdamer Boerse (Hort des Kapitals!) vor, um dort einen Spieplatz zu errichten, und entwarf mobile Lebens-Camps als Antwort auf den flexiblen Kapitalismus.

Zwei einschneidende Ereignisse der letzten Jahre dominieren den heutigen Diskurs ueber die Intervention im oeffentlichen Raum. Zum einen hat die Wirtschafts- und Waehrungskrise seit 2009 deutlich gemacht, dass die europaeischen Laender grosse wirtschaftliche und kulturelle Schwierigkeiten haben, mit der Globalisierung und ihren Konsequenzen umzugehen. Ebenso ungewiss wie die Zukunft eines vereinigten Europas ist die Zukunft der europaeischen Stadt als einem Gemeinwesen. Einerseits haelt die Krise neuerdings die progressive Kommerzialisierung infolge mangelnder Ressourcen auf. Tendenzen kuendigen sich an, den obskuren oeffentlichen Raum zurueckzugewinnen. Die juengsten Protestmanifestationen wie die Occupy-Bewegung deuten darauf hin, dass der Konsens ueber das Recht auf die Stadt (Lefebvre), wenn es ihn denn gegeben hat, in mehreren Laendern erschoepft zu sein scheint.

Zum anderen unterscheidet uns die Ausbreitung von Internet und sozialen Netzwerken von der politischen Situation zu Zeiten Lefebvres und Constants. Eine neue Form von Popkultur ist entstanden, in der die ueblichen Muster von Konsum und Produktion infrage gestellt werden. Das Internet schafft es offenkundig, Menschen zu mobilisieren. Dies sei am Beispiel des grandiosen Aufstiegs der Webseite Youtube kurz erlaeutert.

Man koennte Youtube mit ihren achthundert Millionen Nutzern als das groesste Online-Kino bezeichnen. Obwohl ein amerikanisches Medium, ist es in China so populaer wie in Deutschland. Die Zuschauer sehen in diesem Kino drei Milliarden Stunden Video pro Monat. Die Beschreibung als Kino unterschlaegt jedoch die beiden entscheidenden Aspekte. Youtube ist kostenlos. Und, noch wichtiger: Youtube ist das Produkt seiner Zuschauer. In jeder einzelnen Minute werden von ihnen derzeit weitere sechzig Stunden Filmmaterial auf die Webseite aufgeladen. Das „Time“-Magazin hat vor einigen Monaten vorgerechnet, dass auf Youtube in einem Monat mehr Filmstoff entsteht, als die drei grossen amerikanischen Fernsehanstalten in den sechzig Jahren ihrer Geschichte hergestellt haben. Wenn also der Begriff einer Intervention angebracht ist, dann in diesem Zusammenhang.

Das Spektakulaere an dem Phaenomen Youtube besteht darin, dass Produzenten und Konsumenten staendig die Rollen tauschen. Diese Rollen verlieren dadurch ihre Strenge, tendenziell sogar ihre Bedeutung. Man koennte auch hier sagen: Ihr Verhaeltnis wird obskur.

Youtube ist kein Einzelfall. Die Kulturlandschaft befindet sich generell in einem Transformationsprozess. Nicht nur im Internet, sondern auch im realen Raum sind in den letzten Jahren immer mehr Formate entstanden – Festivals, Clubs, Verlage, Ausstellungsorte -, in denen Menschen, die von Berufs wegen keine Kuenstler oder Intellektuelle sind, sich oeffentlich artikulieren.

Der Experte wird einwenden, dass es sich dabei in der Regel um belanglose Laienbeschaeftigungen handelt, die ernsthafter Kunst das Wasser nicht reichen koennen. Das ist bestimmt vorlaeufig richtig, vermutlich aber auch nicht die Absicht von Youtube-Aktivisten oder  Amateurmusikern. Sie wollen nicht um jeden Preis mit den Profis konkurrieren, sie wollen vor allem am oeffentlichen Auftritt teilhaben. Ihr Aktivismus ist nicht das Ergebnis eines Protests, sondern der Lust am Selbermachen. Wir beobachten eine Gegenkultur, die nicht dagegen, sondern dafuer ist.

Aehnlich wie nach 1968 sind in den westlichen Demokratien heute zwei Richtungen von Interventionisten auszumachen: jene, die das System aendern wollen, und jene, die es verbessern wollen. Nach 1968 hat sich bekanntlich die zweite Gruppe durchgesetzt. Mit welchem Erfolg, steht hier nicht zur Eroerterung. Aber auch im Jahr 2013 hat es nicht den Anschein, als sei die Masse im Begriff, von der Macht der Revolution ergriffen zu werden. Natuerlich gibt es einen aktiven, kompromisslosen Untergrund. Doch scheint ein wesentlicher Teil der aktuellen Mobilitaet eher systemkonstruktiv orientiert zu sein. Im US-amerikanischen Pavillon der letzten Architekturbiennale im Herbst 2012 zum Beispiel wurden unter dem Titel „Spontaneous Interventions“ 124 Projekte vorgestellt, mit denen Urbanisten, Architekten, Hacker oder Kuenstler auf die obskure Realitaet der heutigen Stadt reagierten. Die Vorschlaege beschaeftigten sich mit eigenwilligen Dingen wie War Gastronomy, Hobo Codes oder Ghost Bikes. Oft war von Guerilla die Rede. Doch handelte es sich um Beitraege zu einer offiziellen Ausstellung. Insofern waren die Interventionen weniger kriegerisch als sie klangen.

Generell moechte ich die Vermutung aeussern, dass es der Occupy-Bewegung und aehnlichen Gruppierungen heute vermutlich am Pathos der 68er mangelt. Man koennte auch sagen, es gibt in der Szene ein hohes Komplexitaets-Bewusstsein. Erkennbar ist jedenfalls an den Interventionen des US-Pavillons wie an anderen Projekten zweierlei: Sie beanspruchen weder, die Gesellschaft von Grund auf aendern zu wollen, noch, von langer Haltbarkeit zu sein. Was diese Interventionen auszeichnet, ist ein subtile Bewusstsein dafuer, dass die Unschuld des reinen Dagegenseins verblasst vor der komplizierten Vielfalt des heutigen Alltags. Und dass Interventionen temporaere Wirkungen erzielen und immer wieder neu entwickelt werden muessen. Der obskure oeffentliche Raum ist ein Labor, in dem diese Interventionen ausprobiert und verbessert werden: ein Contemporary Babylon.

Der Erfinder von New Babylon wurde zu Lebzeiten ein besonders von unkonventionellen Geistern gefeierter Kuenstler und Architekt. Auch temporaere Interventionen von heute und morgen werden nicht vom Erfolg verschont bleiben. Manche Vorschlaege von „Spontaneous Interventions“ liessen sich leicht global vermarkten. Moeglicherweise ist man schon dabei. Insofern bleibt die sozial engagierte, uneigennuetzige Intervention weiterhin eine stabile Utopie. Zweckentfremdungen oder wie die Situationisten sagten: recuperation, gehoeren ebenso zur Evolution von neuen Ideen und Projekten wie deren Zweckbestimmung und wiederholte Neubestimmung. So wird auch die weiter oben besprochene Dialektik kommerzieller und immaterieller Interessen der Kunst intakt bleiben.

Was die heutige Generation von Interventionisten anbetrifft, ganz gleich, ob sie im realen oder im virtuellen Raum agieren, so erscheinen sie nicht als Opiumesser oder Berauschte und scheinen an Benjamins Erleuchtung keinen Anteil zu haben. Trotzdem sind sie Flaneure, die ernsthaft an der Rekonstruktion der Aura der Stadt zu arbeiten versuchen.

Text für „reart the urban“, Zuerich, November 2012.

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