Nachdenken zum Thema Leitkultur
Im Grunde müsste man vor einem Diskurs über „Leitkultur“ einen Diskurs über den Begriff „Kultur“ führen. Der Versuch einer Begriffsbestimmung führt an dieser Stelle zu weit. Ein Nachdenken über „Leitkultur“ leidet deshalb unter einer (nicht zu unterschätzenden) Unschärfe.
„Leitkultur“ setzt einen Bedarf an kultureller Regelung voraus. Wahrscheinlich zu Recht. Nach den grossen gesellschaftlichen Emanzipationsprojekten in der alten Bundesrepublik seit den sechziger Jahren stellt sich die Frage: Wohin mit der Emanzipation? Oder: Wie frei ist der Mensch heute in Deutschland? An die Stelle kollektiver Selbstvergewisserung durch gesamtgesellschaftlich akzeptierte und praktizierte identitätsstiftende Formen des Zusammenlebens ist die Etablierung des atomisierten Einzelnen getreten. Trotz opulenter Parteienlandschaft, trotz immer noch starker Kirche, Gewerkschaften, Hilfsgruppen etc. ist Deutschland eine Gesellschaft von Einzelnen geworden. Wenn man auf dem Weg kultureller Regelung wieder zu einer überpersönlichen Orientierung finden will, ist dies nur möglich, indem man für den Einzelnen eine taugliche Anrede findet. […]