Was ist Heimat? – Ein Text für den Thüringer Literaturrat
Seit mehr als sechsundzwanzig Jahren lebe ich in der Schweiz und immer an der Grenze. In Basel waren es noch ein paar hundert Meter nach Frankreich und Deutschland, aber seit sechzehn Jahren trennt mich allein der am Haus vorüberziehende Fluss von Italien. Die Brücke darüber ist ein Grenzposten.
Bis vor wenigen Monaten galten natürlich auch hier der Pandemie wegen besondere Ein- und Ausreisebestimmungen. Grenzen sind seit Menschengedenken Linien, an denen die Unterschiede zwischen den dahinter liegenden Räumen aufeinanderprallen. Die Brücke vor unserem Haus war im letzten Jahr der Austragungsort des sogenannten Sushi-Krieges.
Auslöser für den glücklicherweise unblutigen Konflikt waren gewiefte chinesische Gastwirte mit dem Schwerpunkt auf rohem Fisch, die sich in den letzten Jahren auf der italienischen Seite niedergelassen hatten, und ihre fast ausschliesslich im Tessin ansässige, anhängliche Kundschaft.
Anti-Corona-Massnahmen auf beiden Seiten der Grenze hatten das Sushi-Geschäft zum Erliegen gebracht, doch plötzlich kam es auf unserer Brücke zu Transaktionen, bei denen Lachspakete und Euros (oder Franken) ihre Besitzer wechselten. Pünktlich und täglich gegen Abend standen die Tessiner am Grenzübergang Schlange. Unser Bürgermeister, der übrigens zur Trauung meine aus Singapur stammende Frau freundlich willkommen geheissen hatte, sprach im Radio von einer inakzeptablen Situation, von Chaos am Zoll und dass diese gastronomischen Übergriffe aus dem Nachbarland das Unternehmertum im Tessin untergrabe.
Kantonspolizei und Zollverwaltung wurden aufgerufen, Ordnung zu schaffen. Doch das Verlangen nach italienisch-chinesischem Sushi war stärker, und die italienischen Behörden drückten ein Auge zu, sodass die Schlange sich erst mit der Grenzöffnung auflöste und der Sushi-Krieg im Ansturm der Schweizer Kundschaft auf die lombardischen Geschäfte ein lautloses Ende fand.
In den letzten sechzehn Jahren bin ich oft gefragt worden, warum ich ausgerechnet in dieser Gegend wohne. Immerhin hatte ich zur selben Zeit auch in Berlin, London, Dubai und Hongkong gelebt. Trotzdem bin ich inzwischen in diesem Malcantone-Dorf sogar heimatberechtigt. Warum?
Die Antwort darauf habe ich im letzten Jahr beim Drehen eines Dokumentarfilms, er heisst Outland, herauszufinden versucht. Gemeinsam mit Freunden und Bekannten, die sich dieselbe Frage stellen mögen, weil sie sich in einer ähnlichen Situation befinden. Für uns alle ist das Tessin neue Heimat geworden.
Wie sich bei den Dreharbeiten erwies, ist keiner der ProtagonistInnen wirklich und vollständig heimisch geworden. Wir alle, die wir uns irgendwann entschieden haben, hier auf Dauer unsere Zelte aufzuschlagen, sind vertraut mit diesem Schwebezustand zwischen Dazugehören und Fremdbleiben, der vielleicht die Grundstimmung jeder Auswanderung darstellt.
Wer das Land seiner Geburt freiwillig verlässt, verzichtet oft auf Gewissheiten, von deren Existenz er oder sie vor dem Auszug gar nichts gewusst hat. Zum Beispiel die bislang unerschütterte Überzeugung, da zu sein, weil man eben immer da war. Auch wenn man später irgendwo in der Ferne ein neues Wohnrecht erlangt, geht diese Überzeugung rasch verloren. Man gewöhnt sich an eine neue Erkenntnis: den Umstand keinheimisch zu sein.
Meine Geschichte mit dem Tessin beginnt Mitte der 1970er Jahre. Der Teenager in der DDR, der ich damals war, entdeckte in der frühen Prosa von Hermann Hesse, UNTERM RAD beispielsweise, einen anarchistischen Geist, der sich gegen autoritäre Systeme wie Schule und Arbeitswelt auflehnte.
Im sozialistischen Schulwesen jener Jahre wurden Schüler bereits in der Grundschule sogenannten Brigaden zugeteilt, um den in den folgenden Jahren auf sie zukommenden Drill rechtzeitig zu verinnerlichen. Die unversöhnliche Hesse-Lektüre bot ein Gegengift zum Brigadenregime.
Zwar wurde der Autor in dieser Zeit bei uns im Osten wenig publiziert, aber die Bibliothek meines Grossvaters hatte den Krieg (der den Grossvater geholt hatte) und den Kommunismus unversehrt überstanden. In einem der Bücher darin fiel mir eine Fotografie mit Hesse in die Hände, die mir als Inbegriff für die Unabhängigkeit des Künstlers in einer Welt von Abhängigkeiten erschien: der Dichter im Garten von Montagnola über dem Luganer See, die Berge im Hintergrund. Andere mögen diese Pose als Kitsch abtun. Für den Teenager hinter dem Eisernen Vorhang wirkte das Foto wie das ermutigende Symbol aus einer freieren und zudem irgendwie phantastischen Welt.
Obwohl mein Interesse an Hesse längst nachgelassen hatte, machte ich bereits auf der ersten Ferienreise gen Süden einen Zwischenstopp in Montagnola. Naturgemäss konnte diese (für Deutsche vermutlich obligatorische) Italienreise erst nach dem Fall der Berliner Mauer stattfinden. Das Brigadensystem der DDR hatte endgültig ausgedient. Ich war jung genug, um noch einmal neu anzufangen. Der Blick über den Luganer See schien den Teenage Dream von einst zu bestätigen. Die Phantastik der Landschaft, die Freiheit eines Künstlerdaseins. Auf dem nahegelegenen Kirchhof von Gentilino besuchte ich Hesses Grab und fand dort zufällig auch das von Bruno Walter, dem Jahrhundertdirigenten, und von Emmy Hennings und Hugo Ball, den Mitbegründern von Dada.
Dieser erste Aufenthalt im Tessin, erfüllt von idealistischen Phantasien, wie sie unter Besuchern häufig aufzutreten scheinen, war zugleich von einem seltsamen, an sich absurden Gedanken begleitet. Nachdem die ungeliebte DDR-Heimat gerade untergegangen war und während sich ein neues Deutschland formierte, in dem es augenscheinlich Deutsche erster und zweiter Klasse geben würde, schien die Landschaft rund um die Seen jenseits der Alpen eine Gegenwelt zu bieten, in der ich mir vorstellen konnte zu leben. Da zu sein.
Ungefähr zur selben Zeit, da ich Hesse entdeckt hatte, verfolgte ich in einer Thüringer Kleinstadt an der Grenze zu Hessen im „schwarzen Kanal“ das Kölner Konzert. Nicht Keith Jarrett, sondern Biermann. Der Reiz der Sechziger, in denen das Westfernsehen noch richtig verboten war, wich allmählich einer allabendlichen TV-Praxis. Doch diesmal versprach es wieder aufregend zu werden. Es war nicht unbedingt ein musikalisches Ereignis. Es war eigentlich nicht einmal wirklich ein Konzert. Der Mann auf der Bühne redete und stritt sich zwischen den trotzig hingeklampften Songs ausgiebig mit dem Publikum über Sachen, die hier tabu waren: Mao, den Prager Frühling, den 17. Juni 1953.
Irgendwann passierte es. Der Sänger zitierte Hölderlin, Hälfte des Lebens. Nach den vielleicht eineinhalb Minuten, die er darauf verwendete, die vierzehn Zeilen in seinem sentimentalen Knödel-Stil vorzutragen, war für mich nichts mehr so wie zuvor. „Die Mauern stehen sprachlos und kalt“, hatte er gesagt, „im Winde klirren die Fahnen“.
Wahrhaftig, die Mauern standen sprachlos und kalt. War das die Hälfte des Lebens? Und was würde die andere Hälfte bringen? Was immer ich später zu sagen oder auch nur zu bedenken hatte, ganz gleich in welcher Situation, in welcher Sprache, diese Fragen waren stets dabei.
Noch am selben Abend suchte ich in der schon erwähnten Bibliothek meines Großvaters nach dem Hölderlin-Band. Ich las Hyperion, um den es in dem Kölner Konzert ja gegangen war, las „So kam ich unter die Deutschen“ und darin den Satz über den Status der Dichter, die wie „Fremdlinge im eigenen Hause“ lebten.
Das eigene Haus befand sich in jenem November 1976 am verhärmten Ende des schwarzen Kanals. Hyperion und Biermann hatten Ihr eigenes Haus – wenn auch unfreiwillig – verlassen. Für mich gab es vorläufig nur seine kalten sprachlosen Mauern und die klirrenden Fahnen auf dem Dach. Ich schrieb Verse und arbeitete mich durch meines Großvaters Bibliothek, von Hans Dominik zu Thomas Mann und Gottfried Benn. Meine persönliche Alternative zu DDR-Deutschland. Die andere Hälfte des Lebens. Ein einsames Gegenglück in einer vorerst behördlich vernachlässigten Nische des realexistierenden Sozialismus.
Die Nische aus Büchern bot, was die DDR vorenthielt: eine Heimat. Ein Deutschland, das frei, aufregend, tragisch und manchmal sogar komisch war. So kam es, dass mich die Bibliothek meines Großvaters unter Deutsche brachte, in deren Gesellschaft ich mir weniger fremd vorkam als zum Beispiel in der Schule. Vertraut machte unter anderen mit Jakob Fabian und Tonio Kröger, mit der Droste und dem Gerstäcker, Zarathustra und Kara Ben Nemsi. Und je häufiger ich Marmorklippen betrat oder mit dem Knaben durchs Moor irrte, in den Schluchten des Balkans, auf den Straßen von Döblins Kopfberlin, umso mehr ersetzte diese Landschaft dichterischer Erfindung die Realität des Sozialismus. Am Ende war die DDR eine schale Legende, des Großvaters Bibliothek hingegen, bereichert um die im Land verbotenen Zugänge, die ich unter der Hand in Antiquariaten erstanden hatte, die einzig überzeugende Wirklichkeit.
Dann fielen die sprachlosen Mauern. Nach Jahren gerechnet etwa in der Hälfte meines bisherigen Lebens. Der Engel der Geschichte brauchte nur zu zwinkern, und schon war es um die DDR-Fiktion geschehen. Doch verloren auch die Wirklichkeit der verbotenen Bücher und die darin versprochene Heimat an Überzeugungskraft, seitdem die ganze Pracht von Sigmund Freud bis zum Tibetanischen Totenbuch in Ladenregalen feilgeboten wurden. Seitdem das Verbotene nicht mehr verboten war, wurde es fremd. Dinglich. Kalt und sprachlos. Eine allgemein offenbar nicht besonders begehrte Ware.
Ich kann nur für mich sprechen. Die eigentliche Entdeckung war der sich mächtig öffnende Raum hinter den Läden und ihren Hütern. Die neue Wirklichkeit des gemeinsamen Deutschlands war chaotischer und handfester, hastiger und zunächst berauschender nicht nur als die bleiche DDR, sondern auch als das Zuhause in der großväterlichen Bibliothek. Hatten bereits die Bücher zum Reisen eingeladen, so führten jetzt geografische Wege sowie jene der Sinne und des Erkennens bald weit über alle bislang vorstellbaren Grenzen hinaus.
Zugegeben, der Zauber, den der Westen durch den schwarzen Kanal ausgesandt hatte und der in den Anfängen nach 1990 fortwirkte, konnte nicht ewig halten, was er versprach. Nach ein paar Jahren verließ ich Deutschland, um, wie sich erst viel später zeigen sollte, nie wieder zurückzukehren. Einen Keinheimischen nannte sich die Hauptfigur Robert meines ersten Romans, im elften Jahr der zweiten Hälfte meines Lebens. Damals vertrat Robert in dieser Sache meine Meinung.
Doch war das eine polemische Meinung. In Wahrheit folgte mir die Heimat, körperlos wie ein Schatten. Sie blieb nicht die ursprüngliche Idee Hyperions oder die aus der Bibliothek des Großvaters. Sie ordnete sich vielmehr ein in einen widersprüchlichen Katalog von Ideen, die andere Menschen von den Deutschen und dieser Nation hatten und denen ich nun, da ich unter die Anderen gegangen war, nicht mehr ausweichen konnte. Meine Heimat-Idee wurde skeptischer, bescheidener. Nur an Schwere verlor sie nie.
Draußen hatte ich zu lernen, wie seltsam es ist, ein Deutscher zu sein. Als ich etwa im Hörsaal einer sowjetischen Universität vor die Kommission trat, die meine Abschlussprüfung in Quantenchemie zu beurteilen hatte, gab mir eine Professorin, deren Bluse mit mehreren Orden der Roten Armee dekoriert war, die Botschaft an meine Landsleute mit auf den Heimweg, wir sollten nie vergessen, dass die Sowjetunion unbesiegbar sei. Die Stadt, in der ich fünf Jahre lang studiert hatte, war einst von der Generation meiner Großväter besetzt und zerstört worden. Sie liegt nur zwei Autostunden von Charkiw entfernt.
Zehn Jahre später, soeben als Direktor des Theaters Basel designiert, löste ich das klassische Ballett zugunsten eines modernen Tanztheaters auf. Die Ballettfreunde in der Schweiz gingen aus Protest auf die Straße. Und da das Ballett an Montagen seinen freien Tag hatte, wurden die Demos montags abgehalten und Montagdemos genannt. Ich sah den Deutschen von nun an mit zwei Gesichtern: das aus helvetischer Sicht Großmaul aus dem Norden und den verunsicherten Ossi, der dem Großmaul schon nach 1989 zu Hause begegnet war. Hier, im Spiegel am Oberrhein, hatte ich selbst beide Gesichter.
Zehn weitere Jahre darauf setzte mir ein iranischer Geschäftsmann während einer hitzegetrübten Fahrt durch die emiratische Wüste in seinem Brabus auseinander, warum der deutsche Pass bei den Behörden seines Landes so viel höher im Kurs stehe als irgendein anderer westlicher Ausweis: schließlich hätten sich meine Vorfahren nach besten Kräften um die Abschaffung der Juden bemüht.
Die Nachbarn in Nah und Fern, im Tessin oder in Singapur, haben jeder seine eigene Idee von dieser Nation. Manche dieser Ideen sind unangenehm oder gefährlich, aber jede schärft die Sinne für die eigene Herkunft. Je länger ich aus Deutschland weg bin, umso mehr sehe ich dieses erfolgreiche, in sich gekehrte Land mit den Augen der Anderen. Noch ein paar Jahre, und die Hälfte der Deutschen wird die Zeit der Teilung nur aus zweiter Hand kennen. Noch ein paar Jahrzehnte, und niemand wird mehr dabei gewesen sein bei jenem missratenen Experiment eines Arbeiter-und-Bauern-Staates auf deutschem Boden. Obgleich die Geschichte verblasst, geht sie weiter. Wie sonst lassen sich die aktuellen Ereignisse in Osteuropa begreifen. – Es gibt wieder Fronten, die marschieren. Und der despotische Klang, der die erste Hälfte meines Lebens begleitet hat, ist zurück: das Klirren der Fahnen.