Michael Schindhelm | BERLIN. ECCENTRIC CITY

Berlin. Eccentric City

Periphery as Success (Factor)

Berlin ist keine Megacity wie Moskau. Berlin ist auch keine pulsierende Weltstadt wie New York oder London. Noch hat es architektonische Reize zu bieten, vergleichbar denen von Rom oder Paris. Die Stadt profitiert nicht von einer geografischen und klimatischen Vorzugslage wie Barcelona. Selbst innerhalb Deutschlands kann sich Berlins Lebensqualitaet laut einschlaegigen Studien wir dem Mercer Report nicht messen mit der von Frankfurt oder Muenchen.

Trotzdem hat die Stadt in den letzten zehn Jahren einen erstaunlichen Aufstieg erlebt. Sie zaehlt heute zu den touristisch meistbesuchten Staedten in Europa und damit weltweit. Sie geniesst derzeit unter seinen Einwohnern, die notorisch bekannt sind fuer ihre Brummigkeit (Berliner Baer), eine verleichsweise grosse Sympathie. Sie gilt als ein globales Mekka der Kreativen und Kuenstler, obwohl sie nicht einmal einen vernueftigen internationalen Flughafen hat. Sie ueberschwemmt Abend fuer Abend Besucher und Bewohner mit einer Flut kulturellen Programms, obwohl sie nahezu die aermste Grossstadt im Lande ist. Sie ist die Hauptstadt der maechtigsten Volkswirtschaft Europas und ist seit Jahrzehnten als Wirtschaftsstandort beinahe abgeschrieben. Berlins Langzeit-Buergermeister hat es vor ungefaehr zehn Jahren, als der Aufwaertstrend einsetzte, so zusammengefasst:

Berlin ist arm, aber sexy.

Was macht also Berlins Erfolg, Berlins Erotik aus? Die Antwort ist aus vielen Teilen zusammengesetzt. Die Stadt ist zum Beispiel billiger als die meisten Metropolen auf dem Kontinent. Sie erhaelt massive Bundessubventionen, dank derer sie sich ihren teuren (kulturellen) Lebenswandel leisten kann. Sie ist nach wie vor umgeben von der beruechtigten Aura der Reichshauptstadt Adolf Hitlers und der der Frontstadt des Kalten Krieges.

Aber solche Argumente galten erst recht oder genauso vor zwanzig Jahren. Das Leben in Bratislava ist zum Beispiel noch billiger, Rom wird vom Staat vermutlich hoeher subventioniert und Petersburg ist auch eine historische Legende. Berlin hat offenbar Qualitaeten, die heute besonders populaer sind und von vielen traditionellen Zentren nicht verkoerpert werden. Es sind vor allem vier Eigenschaften, die im Zeitalter von Klimawandel, Occupy, Facebook und Eurokrise hoch geschaetzt werden: Die Stadt ist egalitaer, kommunikativ, konsumkritisch und exzentrisch.

Was bedeutet das im Einzelnen? Die Egalitaet der Berliner Gesellschaft beruht darauf, dass sie nicht durch isolierte oder eingesessene Eliten regiert wird wie andere staedtische Gesellschaften in und ausserhalb Deutschlands, sondern stattdessen eine vergleichsweise autonome und selbstbewusste Stadtteilkultur entwickelt hat. Das einzig anerkannte Statussymbol des egalitaeren Berlin ist Coolness. Gegenwaertig gilt jedoch nur als cool, wer umweltbewusst, solidarisch und inklusiv denkt und lebt.

Die Stadt ist kommunikativ. Sie redet, streitet, flirtet mit sich selbst und mit ihren Besuchern. Sie hat Netzwerke und Informationstechniken entwickelt, die es jedermann – des Deutschen maechtig oder nicht — innerhalb einer zumutbaren Frist erlauben, sich in ihr zu Recht zu finden.

Berlin ist – sogar und vor allem dort, wo es versucht, glamouroes zu erscheinen – der ironische Gegenentwurf zum buergerlichen Hedonismus. Der Oeko-Laden wird dem Delikatessengeschaeft vorgezogen, die Avantgarde-Boutique dem Prada Store, das Fahrrad dem Mini Cooper. Auf dem roten Teppich (zum Beispiel der Berlinale) tarnt sich der Berliner mit einer provinziellen Pose gerne vor jedem Verdacht, eitel zu sein. Luxus steht nicht hoch im Kurs. In Unmassen konsumiert werden hier eigentlich nur Ausstellungen, Theatershows und Parties.

Vor allem aber ist Berlin exzentrisch. Was andernorts angesagt ist, egal, ob es aus Hollywood kommt oder aus Angela Merkels Kanzleramt, hat es in der Regel an der Berliner Basis schwer. Es ist sicherlich eine undankbare Aufgabe, einen Berliner zu finden, der stolz darauf ist, ein Hauptstaedter zu sein. Der eingeborene Berliner ist nicht mal Berliner, sondern Charlottenburger, Koepenicker oder Schoeneberger. Die Stadt hat auch gut zwanzig Jahre nach der Wiedervereinigung ihre Teilung nicht ueberwunden. Die Ursache dafuer liegt vor allem in der Berliner Exzentrik. Wer sich auf der Autobahn der Stadt von Sueden naehert, wird von Schildern darauf hingewiesen, dass er sich entscheiden muss, ob er Richtung „Zentrum West“ oder „Zentrum Ost“ fahren moechte. Das Zentrum Berlins liegt also im Westen oder im Osten, nicht etwa in der Mitte wie anderswo.

Ist der Besucher einmal angekommen, stellt er fest, dass er weder am Kurfuerstendamm, noch an der Friedrichstrasse „im Zentrum“ ist. Er ist an einem belebten Ort in der Stadt, aber davon gibt es mehrere, und keiner geniesst erste Prioritaet.

Berlins Viertel „Stadtmitte“ suggeriert nur zum Schein den Charakter von „downtown“. In Wahrheit bestaetigt diese Topografie aus Gruenderzeit, Nationalsozialismus, Stalin- und DDR-Moderne sowie neudeutscher Architekturgegenwart samt Regierungsviertel, dass Berlins Stadtbild nirgendwo eine Symbolik formt, mit er auch nur annaehernd seine Geschichte erfasst worden waere. Berlins Geschichte entzieht sich der Zentralperspektive.

Was macht nun aber Berlins internationalen und nationalen Erfolg aus? Er liegt in der Uebereinstimmung begruendet zwischen den hervorstechenden Eigenschaften der Stadt und denen jenes oeffentlichen Raumes, der heute global am meisten benutzt wird. Die Berliner Urbanitaet aehnelt der Struktur des Internets. Auch das Internet ist egalitaer, kommuniktiv, konsumkritisch und exzentrisch. Zumindest in der Vorstellung seiner Erfinder und in der seiner Hauptanwender, der weltweiten Gemeinschaft der e-Generation. Deren politische und kulturelle Werteskala ist von den aktuellen globalen Themen und Problemen bestimmt und davon, wie diese zu bewaeltigen sind.

Berlin ist vor allem unter den Zwanzig- bis Vierzigjaehrigen sexy, weil die Stadt ihr Lebensgefuehl verkoerpert. Konsumverzicht, Skepsis gegenueber traditionellen Autoritaeten der Macht, Solidaritaet und Toleranz sind Leitmotive eines urbanen Stils, auf den sich die Internetbewohner von heute weitgehend ueberall auf dem Globus verstaendigen. Berlin ist wie die physische Topografie dieses virtuellen Stils.

Das Internet lehrt ausserdem die Erfahrung einer allgemeinen Vernetzung aller seiner Akteure (oder Bewohner). Lehrt den Umgang mit neuen Gefahren anonymer Ueberwachung und Potentialen kommunikativer Autonomie. Es ist vielleicht nicht verwunderlich, dass sich das Leitbild einer Stadt, die durch verschiedene Systeme staatlicher Repression gegangen ist, heute an politischer Transparenz und sozialer Gleichheit orientiert. Transparenz und Gleichheit sind jedoch universelle und nicht spezifisch Berlinerische Werte. Je mehr Berlin sich diese Werte aneignet, umso weiter entfernt sich die Stadt von ihren historischen Charakteristika. Je staerker sie aktuelle globale Eigenschaften einuebt, umso weniger aehnelt sie der Stadt, der sie einmal war.

Die Sympathie, die Berlin heute geniesst, verdankt die Stadt deshalb wahrscheinlich in erster Linie ihrer heutigen Faehigkeit, eine andere Stadt zu werden. Sie ist weniger preussisch, weniger „westdeutsch“, weniger „sozialistisch“, ja, sogar weniger deutsch als jemals zuvor. Das Ueberraschungsmoment, ausgeloest durch das Erlebnis einer Metropole, die so ziemlich alle (oftmals negativen) Stereotypen ueber sich selbst abschuettelt, hat Berlin eine betraechtliche internationale Fangemeinde eingebracht. Indem Berlin egalitaer, kommunikativ und exzentrisch geworden ist, hat es sich von seinen Klischees verabschiedet: grau, harsch, autoritaer und abweisend zu sein. Besucher und Bewohner von Berlin surfen durch ihre Stadt wie auf einer komfortablen globalen Plattform.

Das Internet macht keinen Unterschied zwischen Zentrum und Peripherie. Das gilt mehr und mehr auch fuer Berlin. So wie Berlin nirgendwo eine Mitte hat, ist es auch nirgendwo wirklich peripher. Die Peripherie – in Ost wie West – hat ihr urbanes Eigenleben generiert. Berlin ist ein Netzwerk geworden, mit Besuchern und Bewohnern, Geschichte und Gegenwart als gleichberechtigten Akteuren. Es sind der Verzicht auf historische Selbstinszenierung und kosmopolitischen Glamour einerseits und die Inkubation eines konsumkritischen egalitaeren Zeitgeists andererseits, wodurch Berlin das traditionelle Bild der europaeischen Stadt derzeit erfolgreich infrage stellt und veraendert.

Erschienen in „The City and the Periphery“, Moscow Urban Forum 2013.

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