Träum‘ weiter
von Michaela Büsse
„Träume sind mächtig. Sie sind Inbegriff unserer Wünsche. Sie befeuern die Unterhaltungsindustrie und fördern den Konsum. Sie verschleiern die Realität und politische Gräuel. Aber sie animieren uns auch dazu, uns die Welt radikal anders vorzustellen, und zu glauben, wir könnten sie zum Besseren verändern.“(1)
Dieses Zitat von Steven Duncombe gehört zu meinen liebsten. Für mich drückt es aus, worum es in Michael Schindhelms Projekt LAVAPOLIS geht. Im Zuge meiner Recherche hat sich mir die Frage gestellt, warum es eigentlich immer schwieriger wird, sich die Zukunft vorzustellen. Die meisten Vorstellungen von der Zukunft, die wir heute haben, sind kurzweilig. Es handelt sich dabei mehr um individuelle Lebensplanung im Sinne eines 5-Jahres-Plans als um Visionen, die über das eigene Dasein und eine Hand voll Jahre hinaus gehen. Zukunft und Gegenwart scheinen zunehmend ineinander verschmolzen zu sein. Sie bilden ein Kontinuum des konstanten Wandels, welches uns außerstande zu setzen scheint, unsere Vorstellungskraft über diese Realität hinaus zu bemühen.
Um diesem Phänomen auf den Grund zu gehen, habe ich die Geschichte der Zukunftsvisionen zu ihren Wurzeln zurückverfolgt. Seit Anbeginn der Menschheit existiert der Wunsch, Wissen über die Zukunft zu erlangen. Vorauszuahnen was einmal kommen mag, ist ein menschliches Grundbedürfnis. Denn Bewusstsein über das, was die Zukunft bringen könnte, verschafft Vorteile in Entscheidungssituationen. Wer die Konsequenzen seines Handelns abzuschätzen weiß, kann seine Schritte besser ausrichten.
Bei einem Blick zurück in der Geschichte stellt man fest, dass das Entwerfen von Zukunftsvorstellungen eine weit verbreitete Beschäftigung war. Das Orakel von Delphi, bekannt aus der griechischen Mythologie, ist sicherlich das prominenteste Symbol für den Versuch, die Zukunft vorherzusagen. Um etwa 800 v. Chr. war Aberglaube noch das Mittel der Wahl, um mit den Unsicherheiten der eigenen Existenz und einer nicht absehbaren Zukunft umzugehen. In den darauffolgenden Jahrhunderten wurden die Prophezeiungen von utopischen Zukunftskonzepten aus der Philosophie, Theologie und anderen Geisteswissenschaften abgelöst. Im Gegensatz zu den zuvor gänzlich fremdbestimmten Zukunftsvorstellungen prägten diese Konzepte das Bewusstsein, das eigene Leben bestimmen zu können. Zu dieser Zeit begann die Ethik Einzug zu halten in die Vorstellungen, die unsere Zukunft prägen.
Aber wie ist es dazu gekommen, dass Utopie heutzutage maximal in der Science-Fiction ausgelebt wird, der einzelne sich jedoch immer weniger damit beschäftigt?
ZUKUNFTSVORSTELLUNGEN IM NIEDERGANG
Laut Fred Polak fehlte es uns bereits vor etwa 40 Jahren an der Fähigkeit – oder auch dem Willen – Zukunftsvorstellungen zu produzieren.(2) Unser Zeitalter kennt nur eine unaufhörliche Gegenwart. Wir sind im Jetzt verhaftet; desillusioniert, was die Zukunft betrifft. Polak setzt das Auf- und Ableben der Vorstellungskraft mit dem Aufblühen und Verfall der Kulturen gleich. Ein positives, florierendes Zukunftsbild steht demnach für eine ‘erblühende Kultur’, während eine Kultur mit vorwiegend pessimistischen Zukunftsvorstellungen im Verfall begriffen ist. In den 2000ern bestätigt Thomas Macho den Niedergang der Utopie. Er behauptet, utopische Vorstellungen seien heute geradezu lächerlich. Zukunftsdebatten würden gemieden und der Zukunftsoptimismus vorangegangener Generationen sei einer ‚Kultur des Gedenkens'(3) gewichen.
Seiner Meinung nach sind die voranschreitende Komplexität und der permanente Wandel Schuld am Versagen unserer Vorstellungskraft. ‚Zukunftsbezogener Idealismus‘ war gestern; heute gilt ‚gegenwartsbezogener Realismus‘. Unter der Annahme, dass die Zukunft durch die Vorstellungen von ihr geprägt wird, fordert Polak neue positive Einflüsse, die uns aus der ‚Zukunfts-Lethargie’(4) befreien.
Das transmediale Erzählprojekt LAVAPOLIS
LAVAPOLIS ist kein theoretisches Konzept, sondern fördert Zukunftsoptimismus aktiv. Das Projekt versteht Zukunft als eine Art Topographie. Was an einem Ort der Welt bereits Realität ist, mag die Zukunft eines anderen Orts darstellen. Auch wenn Zukunft an sich unvorhersehbar bleibt, so kann eine Ahnung davon bereits an anderer Stelle greifbar sein. Entgegen dem vorherrschenden Zukunftspessimismus, den Polak und Macho konstatieren, möchte LAVAPOLIS dazu anregen, in einen inspirierenden und aktivierenden Dialog zu treten: darüber, wie die nahe Zukunft Europas aussehen könnte. Das Projekt bietet eine Bühne für jedermann sich an der Entwicklung eines alternativen Morgen zu beteiligen. Durch das Kreieren von Visionen für eine bessere Zukunft liefert LAVAPOLIS Anregungen für die Gestaltung der Gegenwart.
(1) Duncombe, S. (2007). Dream: Re-Imagining Progressive Politics in the Age of Fantasy. New York: The New Press, S. 182. Originaltext: “Dreams are powerful. They are repositories of our desire. They animate the entertainment industry and drive consumption. They can blind people to reality and provide cover for political horror. But they can also inspire us to imagine things could be radically different than they are today, and then believe we can progress toward that imaginary world.“
(2) Polak, F. (1973). The image of the future. Amsterdam : Elsevier Scientific Publishing Company, S. 14
(3) Macho, T. (2011). Vorbilder. München: Wilhelm Fink Verlag, S. 21
(4) Polak, F. (1973). The image of the future. Amsterdam : Elsevier Scientific Publishing Company, S. 21
Michaela Büsse hat ein Bachelorstudium in Kommunikation und Medienmanagement absolviert und für diverse Unternehmen in den Bereichen Markenfuehrung, Strategie- und Innovationsberatung sowie Trendforschung gearbeitet. Derzeit studiert Michaela Büsse Strategisches Design und Trendforschung im Masterprogramm der ZHdK. In ihrer Masterthesis beschaeftigt sie sich mit dem Austausch zwischen Zukunftsforschung und Design. Michaela Büsse gehoert zum Team von FRIDAY IN VENICE.