Michael Schindhelm | AUF ZU WEISSEN FLECKEN!

Auf zu weissen Flecken!

von Michael Faessler

Das Prinzip ist simpel, die Umsetzung schlicht, die Suchtgefahr gross: Wer die Website MapCrunch besucht, wird in ein zufällig ausgewähltes Panoramabild aus Google Street View versetzt. Mit jedem Klick baut sich auf dem Bildschirm des Betrachters eine neue Welt auf: Eine staubige Landstrasse in Westaustralien, ein Parkplatz im Napa Valley in Kalifornien, die Pforten des Nationalstadions in Gaborne, Botswana. In 80 Klicks um die Welt – wer sich mit diesem Einblick nicht zufrieden gibt, findet auf Google Maps mühelos den Weg zur nächsten Autobahneinfahrt oder das am besten bewertete Motel in der Umgebung, falls das virtuelle Ich denn einmal müde sein sollte von der Reise.

Wer erfahren will, was sich hinter dem eigenen Horizont verbirgt, tut gut daran, eine Reise zu unternehmen – oder zumindest den Blick auf eine Karte zu werfen. Karten helfen dem Menschen seit Jahrhunderten, den Weg zu finden und die eigene Existenz in einem grösseren Ganzen zu verorten. Der Blick über den Tellerrand jedoch, hat sich im Laufe der Jahrhunderte verändert: Der Vorgänger des MapCrunch-Explorers, der Zimmerreisende der Vergangenheit mit Atlas oder Globus, konnte bei seinen Erkundungen fremder Territorien mit dem Finger schon auch einmal über einen weissen Fleck fahren. Was man nicht wusste, konnte nur schwerlich dargestellt werden. Man konnte höchstens Spekulationen anstellen: Auf dem Hunt-Lenox-Globus aus dem frühen 16. Jahrhundert – einem der ältesten Globen überhaupt – wurden Teile Asiens mit den Lettern „Hic sunt Dragones“ versehen: Hier sind Drachen. 500 Jahre später sind die weissen Flecken auf den Landkarten verschwunden, die Welt ist bis in den hintersten Winkel ausgeleuchtet. Aus der Terra incognita von einst wurde die Google Earth von heute. Google hat die letzten Drachen in die Flucht geschlagen.

Karte und Gebiet rücken immer näher zusammen. Oder sie beginnen sich sogar, wie im Falle von Google Street View, zu überschneiden. Der immense Wissensvorsprung des Entdeckers vor dem Bildschirm führt aber mindestens ein Problem zutage: Haben die Karten und Globen die Imagination des Betrachters einst beflügelt, so machen sie diese heute eher zunichte. Blicken wir auf eine Karte, dann blicken wir der Realität ins Angesicht. Je präziser die Welt abgebildet werden kann, desto schwieriger wird es, sich eine andere Welt vorzustellen. Nicht unbedingt eine Welt mit fliegenden Drachen. Auch nicht eine Welt mit fliegenden Autos. Aber etwa eine Welt, in der das gesellschaftliche Zusammenleben anders funktioniert als auf der anderen Seite der Fensterscheibe. Ein weisser Fleck, auf dem im Kleinen gelebt wird, was im Grossen von den Mühlen der Realpolitik zermalmt wird.

Vielleicht hat die Menschheit aber gar keine andere Option, als zu Träumen.

In seinem Essay Der Sozialismus und die Seele des Menschen schrieb Oscar Wilde im Jahr 1891: „Eine Weltkarte, die das Land Utopia nicht enthielte, wäre nicht wert, dass man einen Blick darauf wirft, denn auf ihr fehlte das einzige Land, in dem die Menschheit immer landet.“

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Wer gut genug sucht, der findet sie draussen in der Welt – die Enklaven der Realpolitik. Sie werden aber in der Regel nicht auf offiziellen Landkarten eingezeichnet. Weltweit existieren etwa mehrere hundert sogenannter Mikronationen; Territorien, die von Personen oder Gruppierungen als eigener Staat ausgerufen wurden, bis heute aber vergebens auf internationale Anerkennung warten. Manche sind nur einige Hundert Quadratmeter gross, andere mehrere Quadratkilometer. Manche werden als skurrile Einmann-Königreiche geführt, andere als Kommunen mit klaren Idealen vom guten Leben. Nicht alle sollen und können mit ihren Anliegen für eine andere Ordnung der Dinge ernst genommen werden. In allen Fällen lehrt uns aber der Blick auf Mikronationen: Utopien müssen auch in einer informierten, rationalisierten und desillusionierten Gesellschaft nicht einfach in der Schublade enden. Es braucht dazu nur jemanden mit dem Mut, eine neue Flagge zu hissen – und dabei bitte friedfertig zu bleiben.

Das transmediale Storytelling-Projekt LAVAPOLIS blickt auf einen Flecken Erde, den man ebenfalls vergeblich auf der Karte suchen wird: Auf eine fiktive Insel im Mittelmeer – und berichtet von einem Gedanken-Spiel zur Frage: Was wäre möglich, wenn die Welt eine andere wäre als die Welt, die wir kennen? Wer weiss, vielleicht müssen ja irgendeinmal wirklich unsere Karten neu gezeichnet werden.

Michael Faessler studierte Journalismus und Organisationskommunikation und war anschließend als freischaffender Journalist taetig.  Neben seinem Masterstudium („publizieren & vermitteln“) an der ZHdK arbeitet Michael Faessler als Kommunikationsverantwortlicher im Stapferhaus Lenzburg, wo er gegenwaertig an einer Ausstellung zum Thema „Geld“ mitarbeitet. Michael Faessler gehoert zum Team von FRIDAY IN VENICE.

Michael Faessler studied journalism and organizational communication and subsequently worked as a freelance journalist. Currently, while studying in the master program at ZHdK, Michael Faessler works at Stapferhaus Lenzburg, where at the moment he prepares an exhibition focusing on the cultural importance of money. Michael Faessler is a member of the FRIDAY IN VENICE team.


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