2015: Was kommt.
Dieser Text ist am 3. Januar 2015 in leicht veraenderter Form unter dem Titel „Teilnehmen statt abseitsstehen“ im Zuercher Tagesanzeiger erschienen.
Die Tage zwischen Weihnachten und Neujahr werden die “Zeit zwischen den Jahren” genannt. Das Alte ist schon vorbei, das Neue hat noch nicht begonnen. Kommentatoren der jeweils letzten zwoelf Monate haben Hochsaison. Aber auch die Wahr- und Vorhersager dessen, was kommen wird.
Wir stellen uns – jeder fuer sich oder in Gesellschaft – Fragen, die sich in zwei Kategorien einteilen lassen. Die erste fragt zum Beispiel: Wird es geschaeftlich wieder aufwaerts gehen? Ist der FCB noch zu schlagen? Koennen wir uns den Urlaub auf den Malediven leisten? Die zweite dagegen: Wird sich Ebola auch in der Schweiz ausbreiten? Geht die Eurokrise zuende?
Vorstellungen darueber, wie es privat und beruflich weitergeht, haben sich die Leute schon immer gemacht. So heikel sie fuer den Einzelnen sind, so irrelevant moegen sie fuer die anderen sein. Diese Fragen betreffen eine Zukunft, in der das eigene Ich Hauptakteur ist.
Afrikanische Epidemien, chinesische Umweltprobleme oder globale Wirtschaftsdaten alarmieren die breite oeffentliche Meinung jedoch erst seit relativ kurzer Zeit. Diese Themen betreffen uns als Gesellschaft und werden eifrig verbreitet, etwa im Internet, auf Displays an S-Bahnhoefen oder im Fernsehen. Nachrichtenagenturen wie Associated Press produzieren im Minutentakt Meldungen, in denen es um CIA-Folterer im Irak oder um Basketballspieler geht, die “I Can’t Breathe”-T-Shirts tragen. Das menschliche Gehirn, dessen Fassungsvermoegen sich seit der Steinzeit nicht wesentlich erhoeht hat, geraet in diesem Nachrichtentumult schnell an seine Belastungsgrenzen.
Wir sind mit einem Paradox konfrontiert. Je mehr wir ueber die Welt erfahren, umso weniger wissen wir ueber sie und umso beunruhigter werden wir ueber diese mit dem Wissen wachsende Unwissenheit. So wissen wir, dass 1960 drei Milliarden Menschen auf dem Planeten gelebt haben und es inzwischen mehr als sieben Milliarden sind. Wir ahnen, die Zusammenhaenge sind komplexer geworden. Jedes Einzelnen Zukunft haengt ab von sieben Milliarden anderen Zukuenften. Kein Wunder, dass ehrgeizige Wissenschaftler mehr materielle Unterstuetzung fuer innovative Vorhersagetechniken fordern.
Ein Beispiel besonders kuehner Art ist FuturCT, ein Projekt zur Entwicklung von techno-sozio-oekonomischen Modellen. “Wir brauchen Systeme, die erkennbare Krisen rechtzeitig identifizieren und zugleich helfen, nicht erkennbare Krisen, rasch zu beheben.”, lautet eine Begruendung fuer FuturCT. Teil des Projektes soll ein Planetares Nervensystem werden sowie ein “Living Earth Simulator”, eine Maschine, die die Welt in Realzeit simuliert und uns zuverlaessigt sagt, worauf wir zusteuern.
FuturCT, an dem auch Forscher der ETH Zuerich beteiligt sind, ist ein besonders markantes Beispiel fuer eine technologiebasierte Wissenschaft, die daran glaubt, dass die Zukunft kontrollierbar wird, wenn die Gesellschaft die dafuer notwendigen Ressourcen zur Verfugung stellt. Im Falle von FuturCT handelt es sich um 1 Milliarde Euro, verteilt ueber 10 Jahre.
Dieser Optimismus steht in krassem Widerspruch etwa zu den Nachrichten des Alltags. Angesichts von Klimawandel, Ueberbevoelkerung, Terrorismus und Krieg herrscht Untergangsstimmung. Nichts scheint unterhaltsamer als eine gute Katastrophe. Ein aktuelles Beispiel ist die Trilogie Endgame, in der zwoelf Meteore die Erde getroffen haben und zwoelf auserwaehlte Kulturen im Endspiel ums Ueberleben stehen. Endgame-Fans koennen in einem Spiel 500 000 US$ gewinnen. (Wer alles ueber soziale Alptraumprodukte unserer Zeit wissen will, besuche den Dystopia-Tracker, eine Webseite des Schweizer David Bauer.)
Jonathan Swift hat schon 1735 die Marsmonde prophezeit, Jules Verne vor hundert Jahren das elektrische U-Boot, H.G. Wells die Atombombe. Technische Vorhersagen sind bis heute oft zutreffend und erfolgreich. Die vorhergesagten Innovationen loesen zuweilen Revolutionen aus.
Grosse Gesellschaftsprognosen haben sich dagegen selten bewahrheitet. Weder haben sich die Proletarier aller Laender gegen den Kapitalismus vereinigt (Karl Marx), noch ist das Ende der Geschichte gekommen (Francis Fukuyama). Politische Zukunft wird in ruhigen Zeiten als ein Schicksal begriffen. Als das, was Politiker, Superhirne oder schlicht das “System” machen. Man gibt sich mit einem sporadischen Urnengang zufrieden.
Aber 2014 war nicht so ruhig. Menschen finden sich derzeit nicht ab mit dem Schicksal. Partizipation ist ein Prinzip, mit dem sie versuchen, soziale Anonymitaet zu ueberwinden. So entstehen global und lokal agierende Bewegungen gegen Ungerechtigkeit und fuer bedrohte Rechte und machen aus der einsamen Zukunftssorge des Einzelnen eine kollektive Mission. Man ist bestimmt kein Wahrsager mit der Vermutung, dass uns das Prinzip Partizipation in 2015 mehr denn je beschaeftigen wird.