Wahr? Schoen? Gut?
Michael Schindhelm stellt im Vorfeld des 8. deutschen Kulturpolitischen Bundeskongresses seinen Blick auf vergangene und gegenwaertige Kulturpolitik vor. Der Beitrag ist am 17. Juni 2015 in der Süddeutschen Zeitung erschienen und auch auf deren Website verfuegbar.
Ein Kulturpolitiker ist ein Politiker ohne anderweitige Verwendung. Diese Schmaehung ist nicht neu. Sie nimmt vor allem die Kultur aufs Korn. Kultur sei das letzte Ressort. Die Stadt Berlin etwa hat vor Jahren den Posten eines Kultursenators abgeschafft. Das Amt wird jetzt vom Regierenden Buergermeister selbst wahrgenommen. In vielen Staedten und Bundeslaendern ist Kulturpolitik ohnehin seit langem verdeckte Sparpolitik. Weil die oeffentliche Hand nicht anders kann, als streichen, gibt es fuer den Kulturpolitiker so gut wie keinen Gestaltungsspielraum.
Der Kulturbetrieb beklagt ueberdies Kommerzialisierung und intellektuelle Verflachung und wird selbst zweifelhafter Quoten- und Eventstrategien bezichtigt, mit denen er angeblich die inhaltliche Unabhaengigkeit der Kuenstler und ihrer Vermittler aushoelt. Es gaebe zuviel vom Gleichen, es fehle an Dynamik und Kreativitaet, sagen die Kritiker.
Eine Personalentscheidung wie kuerzlich die ueber die Intendanz an der Berliner Volksbuehne erregt erheblich mehr Aufmerksamkeit als das langsame Theatersterben in Rostock, Dessau, Halberstadt oder Gera/Altenburg. Als gaebe es zu viele der immer gleichen Nachrichten vom wachsenden Elend, um sich damit weiter zu beschaeftigen.
Dieser aktuelle Mangel an kulturpolitischer Relevanz wird im Licht von 25 Jahren deutscher Einheit besonders auffaellig. Denn dieselben Institutionen, die heute mehr denn je dahinkuemmern, sind einst mit grossem Aufwand vor dem Untergang gerettet worden.
Ironischerweise war das aber kein Verdienst der Kulturpolitk im engeren Sinne. Als im November 1990 die Bundesregierung ein sogenanntes Substanzerhaltungsprogramm fuer die Kultureinrichtungen der neuen Bundeslaender beschloss, sass kein Kulturpolitiker am Tisch, denn es gab noch keinen Staatskulturminister. Zwischen 1991 und 1993 erhielten Hunderte von Theatern, Orchestern und Museen in Thueringen oder Mecklenburg-Vorpommern insgesamt 3.5 Mrd D-Mark, um entweder ihre Haushalte auszugleichen oder umfangreiche Sanierungsmassnahmen maroder Gebaeude duchzufuehren. Die Mittel wurden ueber das Bundesinnenministerium verteilt.
Waehrend damals Politik und Wirtschaft der DDR ausgemustert wurden, Staedte saniert, Autobahnen und Kommunikationssysteme errichtet wurden und wenige Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung die ehemalige DDR weitgehend verschwunden war, ueberlebte ihre Kultur.
Natuerlich ging das nicht ohne politisches Tauziehen ab, insbesondere, da Kultur nur als „freiwillige Leistung“ galt, nicht als unverzichtbare staatliche Aufgabe. Westliche Bundeslaender sahen in dem Programm der Bundesregierung ihre Kulturhoheit bedroht. Man erwog Verfassungsklage. Die Kultur blieb dennoch erhalten, in Ostdeutschland, in ganz Deutschland. Ein kulturpolitischer Erfolg. Wem war er zu verdanken?
1990 markierte seit 1871 den fuenften Versuch Deutschlands, eine neue Gesellschaft aufzubauen. Vielleicht zum ersten Mal folgte aber kein totaler Bruch mit der Vorgaengerepoche. Die neue BRD entstand aus den Grundsaetzen der alten BRD. Das bedeutete auch fuer die Kultur staatliche Foerderung und die Einbindung in den oeffentlichen Dienst und somit ein ausgekluegeltes System an tariflich garantierter sozialer Sicherheit.
Gesichert wurden vor allem Institutionen, die ihr Dasein frueheren Epochen, zum Beispiel der Kleinstaaterei oder dem Kaiserreich, verdankten. Sie bildeten und bilden bis heute eine Kulturlandschaft, also eine staedtische oder regionale Topographie von Theatern, Museen und anderen kulturellen Aktivitaeten.
Ueber alle rollenspezifischen Grenzen hinweg haben Politiker, Gewerkschaften, Kulturschaffende und Medien die notwendige Pflege der oeffentlichen Kultur damit begruendet, sie habe einen gesellschaftspolitischen Auftrag. Dieser Auftrag war ungefaehr die moderne Interpretation dessen, was man bis heute etwa an der Fassade der Alten Oper Frankfurt lesen kann: Dem Wahren, Schoenen, Guten sollte die Kultur dienen. Man war sich bislang vor allem einig darueber, dass Kultur identitaetstiftend wirke, nationales oder regionales Erbe pflege, ein unabhaengiges kritisches Korrektiv in der Gesellschaft darstelle und einen Bildungsauftrag erfuelle. Kultur sollte ausserdem fuer alle zugaenglich sein. Irgendwie war jedermann, ob Dezernent, Journalist, Tarifverhandler oder Kuenstler, auch affirmativer Kulturpolitiker.
Doch wirken diese Begruendungen heute seltsam fiktiv. Wer sind zum Beispiel jene „alle“, denen die Kultur zugaenglich gemacht werden soll? Der Gegenwartskunst wird ausserdem oft vorgeworfen, nationales Erbe nicht zu pflegen, sondern zu verunglimpfen. Und die seit dem spaeten 18. Jahrhundert, nach 1968 und erneut nach 1989 selbstgewaehlte Mission einer politischen Aufklaerung ist vielen Kuenstlern inzwischen suspekt.
Die Kultur erfuellt in 2015 keine oeffentlichen Auftraege und Endzwecke mehr. Sie uebt neue Rollenspiele ein. So wird sie Bestandteil kosmopolitischer Plattformen, die sich der Gebundenheit einer konventionellen staedtischen Politik entziehen. Zudem hat die digitale Welt die Kulturpraxis einerseits auf den Kopf gestellt und andererseits vervielfaeltigt.
Die traditionelle Kulturlandschaft ragt wie die Alte Oper Frankfurt als erratischer Block aus der modernen Gesellschaft hervor. Ein unendlicher diffuser Raum ist entstanden, in dem Konsumenten und Produzenten zwischen Online und Offline pendeln, alle erdenklichen Stile, Inhalte und Geografien verwoben und transformiert werden. Die Kulturlandschaft ist Kulturplasma geworden. Die klassischen Begriffe von oeffentlicher Kultur und einer entsprechenden Kulturpolitik werden obsolet.
Jean Baudrillard hat in einem kleinen Text bereits 2007 die Frage gestellt, warum im Zeitalter der Digitalisierung nicht alles verschwunden sei: die Werte, Institutionen, Endzwecke. Seine Antwort in bezug auf die Kunst: Sie sei sich ihres Verschwindens nicht bewusst. Er hat auch darauf hingewiesen, dass die Dinge nie vollstaendig verschwinden, sondern Spuren hinterlassen. Aehnlich antiken Goettern, die im fruehen Christentum die Funktion von Daemonen uebernommen haben.
Tatsaechlich laeuft in Deutschland vor allem der grossstaedtische Kulturbetrieb anscheinend immer noch auf Hochtouren. Es hat nicht den Anschein, die Kultur sei im Ansturm der globalen und digitalen Veraenderungen verschwunden. Baudrillard wuerde sagen, sie sei sich dessen nicht bewusst. Und der Kulturpolitiker bliebe der Mann ohne weitere Verwendung.
Interessanter waere jedoch, sich dessen daemonisches Nachleben im Plasma vorzustellen. Mehr denn je ein Aussenseiter, liesse er die politische Konvention hinter sich, um herauszufinden, wie eine Interpretaton des Wahren, Schoenen, Guten im Kulturplasma aussehen koennte. Dieser Kulturpolitiker haette bestimmt keinen eindeutigen gesellschaftlichen Auftrag mehr. Er wuerde sich vornehmen, ihn trotzdem zu erfuellen.