Michael Schindhelm | WALTER SPIES – ESSAY FüR STAY IN ART BOOKAZINE

Walter Spies - Essay für Stay in Art Bookazine

Walter Spies – Essay für Stay in Art Bookazine

DER DEUTSCHE EXOT

Dieser Mann zählt zu den zahlreichen Deutschen, deren ungewoehnlicher Weg dazu gefuehrt hat, dass sie heute in Deutschland nahezu vergessen, in anderen Laendern hingegen anerkannt sind. 1895 – gewissermassen im Geburtsschatten von Adolf Hitler und Joseph Goebbels – geboren, gehoerte er jener Generation an, die sich irgendwann wuerde entscheiden muessen, die Flucht anzutreten oder mit den Nazis zu marschieren.
Doch Spies ist im Vergleich zu den Thomas Manns und Billy Wilders ein spezieller Fall. Im ausgelassenen Berlin der fruehen Zwanziger rasch ein beachteter Kuenstler des magischen Realismus, der mit Klee und Grosz ausgestellt wurde, erweckte Spies bald die Zuneigung von Friedrich Wilhelm Murnau, einem der wichtigsten Stummfilmregisseure. Spies soll bereits bei Murnaus Nosferatu hinter den Kulissen mitgewirkt haben, der ersten Dracula-Adaption fuers Kino, und verkehrte wie ein Fisch im Wasser in jener bunten und avantgardistischen Szene, die spaetestens zehn Jahre darauf nach Hollywood, Israel, Moskau oder wenigsten Zuerich fluechten wuerde.
Doch bereits vor seiner Ankunft im revolutionaeren Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg hatte Spies Abenteuer zu bestehen. Aus grossbuererlichem Hause stammend (die Familie Spies fuehrte beispielsweise die Zigarettenproduktion von Sankt Petersburg aus in Deutschland ein), lebte er zwischen dem Spiesschen Stadtpalais in Moskau, einem Gut im Sueden des Reiches und einem Elitegymnasium im deutschen Dresden. Als Jugendlicher traf er im Moskauer Salon der Tante regelmaessig auf Gorki, Rachmaninow und den Superstar jener Zeit, Alexander Skriabin. Bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges befand sich Spies ploetzlich in seiner russischen Heimat als Feind wieder und wurde Monate spaeter in den Ural verbannt, um erst im Chaos nach der Oktoberrevolution auf eigene Faust nach Moskau zurueckzukehren. Wie so oft in der Zukunft sollte Spies virtuos mit den dramatischen Wendungen seines Lebens umgehen. So richtete er sich auch in einer primitiven Steppengemeinde unter Tataren, Baschkiren und Kirgisen so gut es ging ein, erlernte deren Sprache und vor allem deren Musik. Nach wenigen Monaten fuehrte er Konzerte mit Beethoven und tatarischen Volksliedern auf und galt als der ungekroente Unterhaltungskoenig des ansonsten vermutlich trotstlosen Verbannungsortes Sterlitamak. Die manchmal kuriosen, manchmal gefaehrlichen Erfahrungen mit den Nomaden in den grenzenlosen Steppen des suedlichen Urals wuerden Spies ueberallhin begleiten.
Spies gilt als einer der ersten Künstler aus dem Westen, der sich auf Bali niedergelassen hat. Zuvor uebte er vier Jahre lang als erster Weisser im Palast des javanischen muslimischen Sultans von Yogyakarta die Rolle des Kapellmeisters aus.
Wie modern die Welt der Dreissiger des letzten Jahrhunderts bereits war, kann man daran erkennen, dass Spies‘ Paradies auf Bali sowohl in der Alten wie der Neuen Welt bald die Phantasien der Happy Few anregte. Und so kamen sie alle: Charlie Chaplin, Vicki Baum, Barbara Hutton, die damals reichste Frau der Welt, Ethnologen und Komponisten, Filmer und Forscher, und bald auch Aristokraten und Neureiche, die sich fuer seine Bilder interessierten. Elli Beinhorn reiste mit ihrem Flugzeug auf Kurs um die Welt an. Unfreiwillig und unversehens hatte Spies den Luxustourismus nach Bali gebracht.
Die Insel, Teil von Niederlaendisch-Indien, litt wie die gesamte Kolonie in jener Zeit unter der Weltwirtschaftskrise. Tourismus war also willkommen, und Bali mit dem in die grosse weite Welt hinausposaunten Flair barbusiger Schoenheiten und tropischer Heiterkeit wie auch einer unangetasteten Kultur sollte nach Hawaii das globale Labor fuer die internationale Branche werden. Einem Neffen von Theodore Roosevelt half Spies einen Film zu drehen, der unter dem Titel Goona Goona (Liebeszauber) in den USA ein Balifieber entfachen sollte.
Natuerlich war Spies wie viele andere (auch) seiner Homosexualitaet wegen 1923 aus Europa geflohen. Als sich bis Ende der dreissiger Jahre autoritaere Regime von Russland bis Spanien gebildet hatten und die Vorkriegsatmosphaere auch den Aequator erreichte, geriet das Baliparadies der Schwulen ins Visier der niederlaendischen Behoerden. Im Dezember 1938 wurde Spies unter dem Verdacht der Paedophilie verhaftet und trotz prominenter Verteidigung sowohl der Balinesen, als auch von Anthropologie-Experten wie Margaret Mead, die zwanzig Jahre spaeter in der Beat Generation zu einem Idol des Feminismus werden sollte, zu einer obschon kurzen Haftstrafe verurteilt. In dieser Zeit entstanden zugleich einige seiner wichtigsten Werke.
Diese Bilder lassen erkennen, wie Spies nach einem Weg aus den Sackgassen der westlichen Avantgarde gesucht und in den Tropen wahrscheinlich gefunden hatte. Sein Stil hatte sich unter dem existentiellen Eindruck von Bali radikal veraendert. Balinesen sind wiederum vor seinen Bildern niedergekniet. Ironischerweise befinden sich die meisten Werke, die nicht in Privatsammlungen verschwunden sind, in indonesischen Museen. Kommt einmal – selten genug – eines seiner Werke auf den Auktionsmarkt, dann faellt der Hammer inzwischen bei siebenstelligen Zahlen.
Mit dem Einmarsch Nazideutschlands in den Niederlanden wurde Spies zum zweiten Mal Kriegsgefangener, obwohl er das Deutschland, mit dem seine tropische Heimat im Krieg lag, nie besucht hatte. Nach Pearl Harbour und dem Vormarsch der Japaner in Suedostasien Ende 1941 wurde die Internierung verschaerft.
Zu Beginn des Jahres 1942 verliess das Frachtschiff Van Imhoff unter hollaendischer Flagge mit beinahe 600 Kriegsgefangenen an Bord, darunter Walter Spies, die kleine Insel Nias vor Sumatra, auf dem Weg zum britischen Ceylon. Der Frachter verfuegte ueber Rettungsboote fuer nur etwa die Haelfte der Passagiere. Kurz nachdem die Van Imhoff in See gestochen war, wurde sie von einem japanischen Kampfjet versenkt. Die hollaendische Crew samt den Wachsoldaten brachte sich auf Booten in Sicherheit und wurde spaeter von den Japanern aufgegriffen. Walter Spies ging mit den meisten Leidensgenossen in den Fluten des Ozeans unter.
Die letzten Postkarten, die er an die hollaendischen Freunde ausserhalb des Internierungslagers schrieb, zeugen davon, dass ihn jene fidele Zuversicht, die ihm schon im Ural durch alles Leiden geholfen hatte, auch auf Sumatra nicht verliess. „Es stirbt sich leicht unter diesen Menschen.“, schrieb er – bezugnehmend auf die Indonesier – bereits frueher an seinen juengeren Bruder Leo.
Aus der Perspektive postkolonialistisch orientierter Kritiker gilt Spies keinesfalls als Unschuldsknabe. Im Nachhinein sind jene, die es wollen, natuerlich immer klueger. Jedoch ist Spies keiner jener weissen Imperialisten gewesen, die sich am Reichtum einer fremden Kultur schadlos gehalten haben.
Waere er in Deutschland geblieben oder wie sein Freund Paul Klee in die Schweiz geflohen, haette er es wahrscheinlich – im Sinne seines Kritiker-Mentors Franz Roh – zu einem anerkannten Vertreter des Magischen Realismus gebracht. Seine Werke hingen in den oeffentlichen Sammlungen deutscher und anderer westlicher Museen, Akademiker wuerden sich mit ihm beschaeftigen, es gaebe Literatur ueber sein Werk als Kuenstler, Musikologe, Ethnologe usw.
Doch Spies interessierte sich nicht fuer einen Platz in der Kulturgeschichte. Er lebte und liebte den Augenblick. Er malte nicht, um beruehmt zu werden, eine neue Kunstrichtung zu schaffen oder Aehnliches, sondern aus Bewunderung fuer die Magie jener Welt, in der er lebte. Diese Gleichgültigkeit gegenüber dem Ruhm der Nachwelt verband ihn mit den balinesischen Kuenstlern. Auf dem Bali von einst wirkte der Kuenstler in der „Community“, oft anonym, nicht als ein Vertreter der „kreativen Klasse“. Nicht Zukunft, auch nicht Vergangenheit, sondern ausschliesslich Gegenwart war fuer Spies eine Voraussetzung zur Arbeit. Er war buchstaeblich ein Gegenwartskuenstler.
Zugleich sah er bereits den Verfall der abendlaendischen Kultur und das Ende ihrer Hoheit gegenueber anderen Kulturen nahen. Spies begruesste Letzteres und entwickelte im Austausch mit den Balinesen einen – vor allem in den ersten Jahren – geradezu naiven Optimismus.
Seit achtzig Jahren ziehen Generationen von Andersdenkenden und Aussteigern mit seinem Beispiel vor Augen in die Tropen auf der Suche nach einem alternativen Leben. Manche dieser meist jungen Leute sind fuer immer dort geblieben, andere sind spaeter nach Hause irgendwo zwischen Sydney, Bern und Kalifornien zurueckgekehrt und wohlbestallte Anwaelte oder Tourismusunternehmer oder Kuenstler geworden. Walter Spies steht fuer die unbedingte Freiheit, den eigenen Weg zu gehen. Auf der Suche nach einer unverlorenen, unverlierbaren Utopie. Darin duerfte er sich nicht allzu sehr unterscheiden von den Jungen von heute, die wie er skeptisch gegenueber den Scheinantworten sind, die ihre – unsere – Gesellschaft ihnen bietet.
Doch führte die Bali-Begeisterung alsbald zu einem bedenklichen Tourismus-Boom. Und das Paradies blieb von Dämonen nicht verschont. In 2002 explodierten mehrere Bomben bei islamistischen Anschlägen, unter anderem in einem beliebten Nachtclub von Kuta. 202 Menschen starben, 209 wurden zum Teil schwer verletzt. Auf einer Tonkassette deklarierte Osama Bin Laden den Anschlag als eine Antwort auf den US-amerkanischen War on Terror.
Doch kennt der globale Tourismus kein Langzeitgedächtnis. 2017 krönte TripAdvisor Bali mit dem »Traveler’s Choice Award« als weltweit attraktivste Ferienregion. Inzwischen besuchen etwa doppelt so viele Touristen die Insel wie sie Einwohner hat. Manche wollen selbst nach ihrem Ableben Bali besuchen: David Bowies letzter Wille etwa bestimmte, seine Asche auf der Erde des heiligen Gunung Agung zu verstreuen, ausgerechnet an jenem Ort, der Spies in den späten 1930er Jahren als Zufluchtsort vor den Zudringlichkeiten westlicher Besucher diente.
Obwohl Walter Spies gewiss nicht als Grübler galt, hat er die Gefahr touristischer Ausbeutung frühzeitig erkannt und aufzuhalten versucht. Je länger er auf der Insel lebte, umso realistischer wurde der Blick. Als kommerzielle Galerien aus Europa Filialen in Denpasar eröffneten und lokale Künstler überredeten, ihren Stil so anzupassen, dass westliche Käufer Gefallen an ihren Werken finden würden, gründete Spies zusammen mit seinen balinesischen Freunden die Kooperative Pita Maha. Bis heute gilt Pita Maha auf der Insel als ein Projekt der balinesischen Selbstbefreiung von der Bevormundung ausländischer Händler. Pita Maha ermöglichte es auf dem Höhepunkt ihres Bestehens hundertdreißig lokalen Künstlern, ihre Werke direkt an ihre Käufer oder deren Agenten zu verkaufen und somit einen Verfall sowohl von Qualität als auch Preis zu verhindern.
1956 wurde das Puri Lukisan Museum in Ubud eröffnet, das erste und immer noch wichtigste Museum für balinesische Kunst. Werke aus den Sammlungen von Gregory Bateson, Margaret Mead und Rudolf Bonnet wurden ausgestellt. Spies’ Famulus der ersten Bali-Monate, Anak Agung Gde Sobrat, avancierte nicht nur zu einem bedeutenden indonesischen Künstler, sondern unterrichtete zudem an der Kunsthochschule von Yogyakarta.
In Ubud und an vielen anderen Orten der Insel gibt es nicht nur Kulturtourismusfallen, sondern auch ernstzunehmende Kuenstler und Taenzer.
Vielleicht besteht darin gerade sein Erbe. In einem Künstlertum, das sich aus Hingabe zur Peripherie, zum Exotischen, von allen nationalen und kulturellen Verankerungen löst und die fruehzeitige Offenbarung erfährt, dass es in der Moderne nur eine Heimat geben kann: das Leben selbst.

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