Michael Schindhelm | SAMSTAGSGESPRäCH – „EINE ISOLIERTE ALPENZELLER KULTUR HAT ES NIE GEGEBEN“

Samstagsgespräch – „Eine isolierte Alpenzeller Kultur hat es nie gegeben“

Herr Schindhelm, Sie halten am Montag in Zürich einen Vortrag mit dem Titel: „Das Unbehagen in der globalen Kultur.“ Klären wir zuerst das Grundsätzliche: Was ist Kultur?

Alle unsere Handlungen sind Kultur. Sie ist das Gegenteil von Natur. Die Kunst ist ein spezieller Bestandteil der Kultur: ein Produkt, mit der wir die Wirklichkeit zu erschliessen versuchen. Am Anfang brauchte der Mensch kulturelle Instrumente und Techniken, um sein Leben bewältigen zu können. Andere Lebewesen sind von ihren körperlichen Anlagen her weit besser für die Lebensbewältigung ausgerüstet als der Mensch. Herder hat ihn daher als „Mängelwesen“ bezeichnet. Mit der Zeit, als der Mensch nicht mehr allein mit der Lebensbewältigung beschäftigt war, kamen andere kulturelle Elemente hinzu: Religion, Kommunikation, Kunst, Wissenschaft…

Worin unterscheidet sich unser heutiges Verhältnis zur Kultur von demjenigen unserer Vorfahren?

Wir befinden uns in einem kulturellen Umbruch. Lange war es so, dass sich der Mensch Instrumente geschaffen hat, die seine eigenen Begabungen verstärkt haben. Er hat das Rad erfunden, damit er schneller vorwärts kommt als zu Fuss. Er hat Tiere domestiziert, dass er mehr transportieren kann als auf den eigenen Schultern. Der technische Fortschritt der letzten Jahrzehnten macht es nun aber möglich, dass wir uns ganz neue, virtuelle, uns selbst koerperlich nicht zur Verfügung stehende Wirklichkeiten erschliessen können. Nehmen Sie den Fernsehapparat: Dieser bringt uns Bilder nach Hause, die irgendwo auf der Welt produziert worden sind. Dadurch ist die Welt sehr viel kleiner geworden. Das globale Dorf ist entstanden.

Was macht diese Veränderung mit den Menschen?

Vor 50 Jahren war man dort verwurzelt, wo man aufgewachsen ist. Man verstand Kultur als etwas Kleinräumiges, Lokales. Das Dorf, der Dialekt, das lokale Brauchtum: Sie stifteten Identität. Allenfalls identifizierte man sich noch mit dem eigenen Kanton und zumindest am 1. August mit der Nation. Mit der Welt als solcher hatte man dagegen wenig am Hut. Vielleicht war man schon mal in Deutschland oder Italien gewesen, aber insgesamt war der räumliche Horizont sehr eng gefasst. Als Rüstzeug für das eigene Leben galt das, was von den Vorfahren überliefert worden war: bestimmte Gedichte, Lieder, der Glauben und eine Vorstellung von der nationalen Geschichte. So verfestigte sich ein kulturelles Milieu.

Erste Irritationen gab es aber schon damals.

Das stimmt. Leute, die auf dem Land lebten, empfanden etwa die Stadt als kulturelle Bedrohung.  Dort wurden Traditionen und Identitäten in Frage gestellt, dort tauchten „die Fremden“ auf. Fernsehen, Radio und Schallplatten sorgten fuer auslaendischen Kultureinfluss. Das Problem der Identität und der Abgrenzung von den anderen hat sich allmaehlich verstärkt. Doch die Welt draengt immer weiter auf uns ein, und uns zieht es stetig mehr hinaus.

Was macht die Globalisierung mit der Kultur?

Sie macht sie gleichzeitig reicher und ärmer. Es gibt fraglos eine Bedrohung der Vielfalt, gerade was die Sprachen betrifft. Laut Unesco stirbt alle zwei Wochen eine Sprache aus. Heute gibt es weltweit etwa 6000 Sprachen. Die Hälfte davon ist bedroht. Dann gibt es Auswirkungen, die zwar auch nicht nur gut sind, die aber nicht zum Verlust der Vielfalt führen muessen. Die Globalisierung beeinflusst unsere Art, zu kommunizieren. Wir kommunizieren kürzer, knapper und schneller. SMS und Twitter haben eine Art Mikrokommunikation begründet. Das hat wiederum Folgen für die Sprache. Nehmen wir die Schweizer Mundart: Die ist heute ein Patchworkprodukt, da ist ganz viel drin, von mittelalterlichen Begriffen bis zu Elementen der SMS-Sprache. Diese Entwicklung schafft einerseits Reichtum, bedroht aber gleichzeitig gewisse Standards.

Sie halten die Bedrohung der Bildungsstandards für das grössere Problem als die Bedrohung der Vielfalt?

Standards dienen dazu, die Wirklichkeit zu begreifen und gegebenfalls Probleme zu loesen, die sie uns stellt. In der Schule zum Beispiel werden uns solche Standards beigebracht. Die ungeheure Komplexitaet und Fluechtigkeit, mit der wir heute konfrontiert werden, fordert diese Standards in extremer Weise heraus. Herauszufinden, was fuer mich wichtig ist und was in Zukunft wichtig werden wird, ist ziemlich kompliziert geworden. Was ich in der Schule gelernt habe, was mir Traditionen dazu sagen, ist nur bedingt komplatibel mit meiner kulturellen Realitaet. Daher sehe ich eine Aufgabe darin, Bildungsstandards an diese Realitaet kontinuierlich anzupassen. Andernfalls werden sie zum Luxus einer bestimmten Elite. Hier haben alle oeffentlichen Institutionen eine Verantwortung: Schulen, Medien, Kultureinrichtungen, und vorallem die Familie.

Müssen wir davon ausgehen, dass die lokale, identitätsstiftende Volkskultur – sagen wir: die Appenzeller Streichmusik – irgendwann im kulturellen Einheitsbrei der globalisierten Welt untergeht?

Tatsächlich ist es so, dass wir heute in einer Kultur leben, in der es das ausschliesslich Lokale, das ausschliesslich Nationale nicht mehr gibt. Es gab eigentlich nie isolierte deutsche, französische oder Appenzeller Kultur. Schon das, was die Leute vor zweihundert Jahren gemacht haben, entstand in Interaktion mit Nachbarkulturen. Auch das scheinbar ganz Lokale ist ein Komplex aus verschiedenen Einflüssen. So ist etwa das Baseldeutsch wie alle anderen Schweizer Dialekte keineswegs eine Sprachinsel, sondern Teil einer Familie, die auch im Badischen und im Elsass gesprochen wird.

Dass Grossstädte ihren eigenen, spezifischen Charakter immer mehr einer gesichtslosen 08/15-Moderne opfern, ist aber ein Phänomen der Gegenwart. Das war nicht immer so.

Gerade an Städten lässt sich gut zeigen, dass die Situation paradox ist. Heute hat jede grössere Stadt eine Fussgängerzone, Buehnen, Museen, einen Flughafen, und diese Infrastuktur aehnelt irgendwie der in anderen Staedten. Hinzu kommen Ableger der grossen Hotelketten und der wichtigen Produkt-Marken. Starbucks ist überall. Es gibt also eine Konvergenz zwischen den Städten. Man kann das beklagen, sollte aber nicht vergessen, dass das Ganze eine Kehrseite hat: Staedte moegen einander gleichen, aber sie unterscheiden sich dramatisch von dem, was sie einmal gewesen sind. Die Welt ist in unsere Staedte eingekehrt: mit ihren Menschen, Kulturen, Kuechen, ihrer Mode, Popkultur etc. Wir sind dankbar, dass man heute in Zürich an jeder Ecke einen guten Espresso bekommt. Das war von fünfzig Jahren nicht der Fall. Und Sushi gab es vor fünfzig  Jahren in Zürich überhaupt nirgends. Vielfalt und Aehnlichkeit gehoeren daher zusammen…

Täuscht der Eindruck, dass sich in jüngster Zeit die Prioritäten verschoben haben: Dass das dringendste Bedürfnis nicht mehr darin besteht, die Welt nach Zürich zu holen, sondern dafür zu sorgen, dass unter dem allgemeinen Globalisierungsdruck ein Rest von Typisch-Zürich erhalten bleibt?

Der Eindruck täuscht nicht. Die Schweiz ist ja eines der weltweit am stärksten globalisierten Länder. Ein wenig vereinfacht gesagt, ging es bis vor kurzem vorallem darum, die Schweiz in die Welt zu tragen und gleichzeitig die Welt in die Schweiz zu holen. Das ist sicher immer noch wichtig, aber die Welt, die man hereinholt, soll auch Teil davon werden, was man den Schweizer Standard nennen koennte. Darunter verstehe ich etwa die Pflege des kulturellen und baugeschichtlichen Erbes, Lebensqualität, Toleranz, soziales und oekologisches Bewusstsein. Allmaehlich entsteht so uebrigens Kosmopolitismus.

Wie sorgt man für ein gesundes Verhältnis zwischen Einheimischen und Ausländern?

Es ist bemerkenswert, dass es besonders in jenen Staaten eine breite, teils populistische Kritik am Fremden und an den Fremden gibt, die einmal eine fortschrittliche Einwanderungspolitik hatten: etwa in Dänemark oder in Holland. Man ist dort davon ausgegangen ist, dass die Einwanderer sich rasch anpassen würden. Es gab eine Unterschätzung des Andersseins. Erst aus der Nähe betrachtet wurde sichtbar, was es bedeutet, das Fremde als das Fremde zu akzeptieren. Ploetzlich hat sich gezeigt, wie anspruchsvoll kulturelle Koexistenz ist.

Wenn Sie nun in Zürich über „globale Kultur“ sprechen, also über die Kultur im „globalen Dorf“ – über was konkret reden Sie?

Zum Beispiel ueber das Eindringen der Welt in unseren lokalen Kultur- und Lebensraum. Das beginnt mit dem Espresso an der Ecke, der eben globale und nicht mehr italienische Kultur ist. Globale Kultur zeichnet sich unter anderem dadurch aus, dass sie oftmals ueberall verfuegbar ist. Wie der Espresso. Man koennte sagen, der erste Schub globaler Kultur sei aus Amerika gekommen. Was nach 1945 geschehen ist, begünstigt durch den technologischen Vorsprung, den die Amerikaner damals hatten, ist mit „Amerikanisierung“ nicht präzis beschrieben. Es ging darum, bestimmte Kulturinhalte und Techniken weltweit zu verbreiten.

Aber Rock’n’Roll, McDonalds oder Hollywood sind ja schon typisch amerikanisch…

Das Ziel war aber immer ihre globale Verbreitung. Die digitale Revolution hat spaeter diese Verbreitung radikal beschleunigt und internationalisiert. Nehmen  Sie das Video „Gangnam Style“. Menschen irgendwo in der Welt, die sonst nichts von Südkorea wissen moegen, etwa, dass Gangnam ein Stadtteil von Seoul ist, haben sofort einen neuen Stil entdeckt, in dem sie sich selbst ausdruecken koennen. Das Ergebnis sind unzaehlige Parodien und Massenevents.

Die Verankerung im Lokalen gab früheren Generationen Sicherheit. Für heutige Jugendliche ist die Situation anspruchsvoller. Sie sind nicht mehr in einer lokalen Kultur verwurzelt.

Das stimmt. Und doch ist das Unbehagen in der aktuellen Kultur wahrscheinlich ein sekundäres Problem für die junge Generation. Die schwierigere Frage lautet: Wo ist mein Platz in der Arbeitswelt? Im mediterranen Raum etwa ist die Situation für die Jungen schon heute dramatisch. Die Jugendarbeitslosigkeit in Spanien oder Griechenland liegt bei 50 Prozent. Waehrend wir bislang gewohnt waren, dass uns die Gesellschaft Angebote gemacht hat, werden sich die jungen Leute von heute und morgen ihre Angebote selbst erfinden muessen. Zumindest ein wachsender Teil von ihnen. Insofern ist kulturelle Kompetenz vermutlich doch wichtig: fuer die Entfaltung dieses neuen Erfindertums. Dennoch: Wir können die kommenden Generation noch so sehr zu Toleranz, Vielfalt und globaler Kultur aufrufen – so lange wir ihnen verunmöglichen, sich als Arbeitskraft einzubringen, ist alles vergebliche Liebesmüh.

Wo liegt für die Kultur die grosse Herausforderung?

Ich halte es mit Brecht: Zuerst kommt das Fressen, dann die Moral. Ohne ein wirtschaftliches Fundament, das der Gesellschaft erlaubt, die Globalisierung zu verkraften, werden wir nicht auf Dauer innovativ sein. Je grösser existentielle Unsicherheit, umso ausgeprägter das Bedürfnis nach ideologischen und vereinfachenden Argumenten. Die Kultur ist dann plötzlich nicht mehr ein Motor der Offenheit sondern ein Vehikel zur irrationalen Verteidigung. Es werden Mauern hochgezogen. Leider kann Kultur auch dazu viel beitragen.

Dieses Interview wurde im Tagesanzeiger veröffentlicht. 

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