Kolumne 2 – gazeta.ru
1992 erschien ein einflussreiches Buch unter dem inzwischen beruechtigten Titel: „Das Ende der Geschichte“. Es war unter dem Eindruck des gerade kollabierenden sozialistischen Weltsystems entstanden. Der US-amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama verkuendete darin: „Wir erleben nicht nur das Ende des Kalten Krieges, … sondern haben den Endpunkt ideologischer Entwicklung erreicht, die Universalisierung der westlichen Demokratie als ultimativer Gesellschaftsform.“
In jenen seligen und prosperierenden Jahren fuehlte sich die westliche Welt unter anderem zu der optimistischen Annahme ermutigt, bald werde sie auch mit dem ehemaligen Lande Lenins ein wachsendes Band politischer und oekonomischer Uebereinstimmung verbinden: Respekt der Menschenrechte und freie Martwirtschaft ueberall zwischen San Francisco und Wladiwostok.
Es dauerte damals aber nicht lange, da wurde ich von Leuten, die von meiner Herkunft aus dem Osten wussten, gefragt, warum der Jelzin und seine Leute das nicht hinkriegten. Da waren diese haeufigen und oft gewaltsamen Massendemos, der Krieg in Tschetschenien, die Korruption… Das passte alles weder zu Fukuyamas angeblichem Ende der Geschichte, noch zu dem Enthusiasmus, mit dem auf der Manezhnaya 1991 alles begonnen hatte. Was ist nur mit den Russen los?, dachte man in Zuerich oder London. Sind sie vielleicht nicht demokratiefaehig? Oder wollen die etwa unser System nicht uebernehmen..?
Auch andere Voelker schienen nicht sofort vom demokratischen Kapitalismus ueberzeugt. Fukuyama musste schliesslich – unter dem Eindruck des 11. September 2001 – einraeumen, das Ende der Geschichte muesse vor allem mit Blick auf den erstarkenden Islamismus aufgeschoben werden. Unangetastet blieb jedoch die Ueberzeugung, der Westen sei die beste aller moeglichen Welten, und Menschen, die andernorts gegen ihre Regierung protestieren, wuenschten sich nichts sehnlicher, als ein Leben unter kapitalistischen Bedingungen. Als zum Beispiel in Tunesien und Aegypten Zehntausende auf die Strasse gingen und das herrschende Regime stuerzten, feierte man den arabischen Fruehling in Washington, London oder Frankfurt als eine Wende zur Demokratie, obwohl schon in den ersten Wochen junge Protestler in Kairo keinen Hehl daraus machten, sie wuerden Aegypten nicht nur von Mubarak, sondern auch vom Einfluss der USA befreien.
Ein Kolumnist der New York Times hat vor ein paar Tagen ueber seinen juengsten Besuch in Moskau berichtet: Es herrschten 16 Grad unter Null, und 120 000 Leute waren gekommen, um gegen Putin zu demonstrieren. Die Witterung und die Zahl der Menschen spraechen fuer sich, sagt der Kolumnist. Es sei wie ein Erdbeben gewesen, wie ein Vulkan. Und dann erinnert er sich an Kairo und Damaskus und zieht Vergleiche. Ueberall sieht er demokratische Bewegungen.
Diese Beobachtungen sind zweifellos berechtigt, und die Demonstranten verdienen grossen Respekt. Aber das Bild ist nicht vollstaendig. Waere der Kolumnist zum Beispiel laenger in Moskau geblieben, haette er verfolgen koennen, wie sich der hiesige Buergermeister mit dem Antrag einer Waehler-Demo fuer Wladimir Putin konfrontiert sieht, die in der Innenstadt 200 000 Menschen versammeln soll. Vermutlich werden bis zum 23. Februar die Temperaturen nicht wesentlich ansteigen, und es ist gut moeglich, dass es erneut wie ein Erdbeben sein wird, ein Gegen-Vulkan.
Auf den ersten Blick wirkt die Leidenschaft fuer den politischen Strassendiskurs paradox. Denn es hat nicht den Anschein, als zweifele jemand am Ausgang der Wahlen vom 4. Maerz. Und aller Frustration, aller Rebellion, aber auch allem Pathos („Rettet das Vaterland!“) zum Trotz ist Russland weder Aegypten, noch Syrien. Ist das ganze Pro und Contra auf den Strassen von Moskau also nichts weiter als ein Nullsummenspiel?
Die Demonstranten moegen zwar entgegengesetzte politische Ziele haben, in einem sind sie sich anscheinend einig: Sie muessen ihre Sache jetzt selbst in die Hand nehmen. Der Schauplatz fuer die Auseindersetzung darum, wie es im Land weitergehen soll, ist nicht mehr das Parlament, sondern die Strasse, der oeffentliche Raum. Zwar kennt auch der oeffentliche Raum seine Einschraenkungen, ist vielleicht hierzulande nicht einmal richtig oeffentlich, aber das stoert viele Leute im Augenblick nicht. Schliesslich hat alles mit dem Vorwurf des Wahlbetrugs begonnen, und jetzt pochen sie auf ihr verbrieftes Recht. Der Protest ist also konstruktiver Protest.
Gerade deshalb verdienen die aktuellen Ereignisse, nicht nur im Lichte von Syrien oder Aegypten betrachtet zu werden. Vielmehr draengt sich dem aussenstehenden Beobachter der ganz unromantische Vergleich zu jenen sozialen Unruhen auf, die seit Monaten Europa selbst heimsuchen. Auch im Westen schlaegt ja derzeit eine neue Stunde des Protests. Waehrend sich frustrierte russische Waehler auf der Triumphalnaya oder der Bolotnaya versammelt haben, formierte sich in fast allen europaeischen Hauptstaedten die Opposition gegen den globalen Kapitalismus und die sozialen Folgen der Wirtschaftskrise. Jedoch anders als auf Moskaus Strassen eskalierten in Athen, Rom oder London Demonstrationen, die friedlich begonnen hatten. Man beliess es im Westen nicht wie in Moskau bei der Einforderung demokratischer Standards (zum Beispiel des Wahlrechts), sondern errichtete Barrikaden, zuendete Autos an und rief zu Generalstreiks auf. Es sieht so aus, als sei die Protestkultur selbst in der Krise, und der Protest schlaegt um in ziellose Destruktion.
Der vielleicht treffendste Kommentar zur Konfusion ueber die Spielregeln der Demokratie war vor ein paar Tagen im Schweizer Davos zu lesen. Ein Demonstrant der „Occupy The World Economic Forum!“-Bewegung hielt ein Schild hoch, auf dem stand: „Koennten Wahlen etwas veraendern, waeren sie verboten.“ Diese Wut richtet sich demnach nicht mehr nur gegen den korporativen Kapitalismus, sondern gegen das politische System selbst, und man kann derzeit nur darueber spekulieren, wieviel Legitimation das demokratische Parteiensystem in Europa noch besitzt.
Die Russen moegen es in den letzten zwanzig Jahren nicht hingekriegt haben, Demokratie und Marktwirtschaft nach westlichem Modell zu adaptieren. Die aktuellen Ereignisse zeigen aber, dass ein nicht unerheblicher Teil unter ihnen nach wie vor und unermuedlich die Einfuehrung dieses Modells fordert. Pessimisten koennten sagen, dass nicht nur die politische Wirklichkeit im Lande jede Chance auf Veraenderung ausschliesst, sondern selbst in jenen Staaten, wo die Demokratie schon eine Weile praktiziert wird, dieselbe derzeit nicht besonders gut dasteht.
Aber wenn sich Hunderttausende versammeln, muss man davon ausgehen, dass sie von ihrer Sache ueberzeugt sind. Die Demonstranten – pro und contra – sind eventuell nicht apokalytische Vorboten einer „Zeit der Wirren“, sondern Anzeichen fuer eine neue Form der politischen Mitbestimmung. Die Geschichte des oeffentlichen Protests seit der Perestroika zeigt vielleicht eine interessante Dialektik: Zuerst wurden Gesetze erlassen oder abgeaendert, die die Meinungsfreiheit erweitert haben. Damit nahmen die Proteste im oeffentlichen Raum zu und schwollen zu grossen Manifestationen an. Als der Protest zu laut und haeufig gewalttaetig wurde, zwang der Erlass restriktiver Gesetze zu Einschraenkungen der Versammlungsfreiheit.
Jetzt scheint der Moment fuer eine Neuverhandlung gekommen. Wenn mich derzeit Leute im Westen, die meine Herkunft aus dem Osten kennen, danach fragen, was ich von Putin, den Russen und den Demos halte, habe ich nur eine Vermutung: Hier wird im Moment wahrscheinlich ernsthafter fuer die Demokratie gestritten als bei uns zu Hause.
Erschienen auf gazeta.ru.