Kolumne 5 – gazeta.ru
Von der Sowjetuonion lernen heisst Siegen lernen. So habe ich das im sozialistischen DDR-Unterrichtet der siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts gelernt. Die Frage, die ich mich meinem ehrgeizigen Lehrer damals nicht zu stellen entschied, lautete: Wenn wir von der Sowjetunion lernen, von wem lernt eigentlich die Sowjetunion selbst? Vor gut zwanzig Jahren hat die Geschichte sowohl der Vorbildwirkung der Sowjetunion, als auch dem Lernprozess in den anderen kommunistischen Staaten ein Ende gesetzt, und meine Frage ist unbeantwortet geblieben.
Volkswirtschaftliche Vorbilder werden heute von globalen Analysten gemacht, die nach statistischen Daten Indices erstellen und daraus ableiten, wie gut oder schlecht es um eine Gesellschaft bestellt ist. Da wir im Jahrhundert der Staedte leben, verlocken vor allem erfolgreiche Stadtentwicklungskonzepte Politiker und Urbanisten zur Nachahmung. Das Fruehjahr ist bekanntlich die Zeit der City Rankings. Knight&Frank, Economist Intelligence oder Mercer sind jene Agenturen, deren Klassifizierung nach Kriterien wie Sicherheit, Gesundheits- und Umweltstandards, Lebenshaltungskosten etc. weltweit nicht nur als Instrument fuer Stadtplanung und City-Brandung benutzt werden, sondern auch multinationalen Unternehmen dazu dienen, Standortfaktoren fuer ihr Business zu definieren. Mercer & Co werden ueberall auf der Welt mit Spannung gelesen und entscheiden angeblich darueber, wo die Menschen gerne leben und wo die Ansiedlung von Wirtschaft und Kapital besonders attratkiv ist.
Moskau schneidet in der Regel nicht gut ab bei solchen Rankings. In Sachen Lebensqualitaet ist die Stadt vor ein paar Tagen von Mercer gerade wieder auf Platz — verwiesen worden, nach Gesichtspunkten der Lebenssicherheit sogar auf den — Rang. Es geht noch duesterer: Die Stadt hat solchen Statistiken zufolge die fuenfthoechsten Hotelpreise der Welt, ist die viertteuerste Stadt, und der Tripadvisor – wichtiges Beratungsinstrument des internationalen Individualtourismus – sieht Moskaus Restaurants weltweit an vorletzter und den Kundenservice an drittletzter Stelle.
Analysen dieser Art werden vor allem dann, wenn sie unvorteilhaft ausfallen, von Medien ueberall in der (westlichen) Welt dazu benutzt, um die lokale Politik fuer ihre Versaeumnisse bei der Stadtplanung, dem Tourismus, der Sicherheit etc an den Pranger zu stellen. Man ist zum Beispiel in Paris oder Rom darueber veraergert, in Sachen Lebensqualitaet erst in den dreissiger oder fuenfziger Raengen vorzukommen, waehrend Zuerich oder Genf eher zurueckhaltend darueber mit den Schultern zucken, seit Jahren ganz vorn zu sein.
Aber bei Vergleichen dieser Art ist Vorsicht geboten. Schon beim ersten Blick auf die Rankings stellt sich die Frage, ob sich Staedte wie Moskau, Bagdad, Wien und Honululu (oft die „beste“ Stadt in den USA!) vergleichen lassen. Der Mercer Quality of Life Survey analysiert ca 400 Staedte nach 10 Kategorien mit 39 Faktoren. Dazu gehoren z.B. die Vielfalt an Lebensmittelangeboten, Klima, Anfaelligkeit gegenueber sozialen Unruhen, aber auch Naturkatastrophen, das kulturelle Angebot. Unternehmen von der Art Mercer behaupten, Kriterien zu kennen, nach denen Qualitaet „gemessen“ werden koennen. Aber ist es nicht ein Widerspruch in sich, Qualitaet mit quantitativen Mitteln beurteilen zu wollen? Hat nicht jede Stadt ihre eigene Qualitaet, die sich mit der einer anderen nach derartigen Kriterien eben gerade nicht einfangen laesst?
Statistische Berichte dieser Art sind im Zuge der Globalisierung entstanden und wichtig geworden, in erster Linie, um international agierenden Unternehmen und Organisationen die Moeglichkeit zu geben, die Lebenshaltungskosten fuer ihre weltweit beschaeftigten Mitarbeiter zu ermitteln. Diesen Zweck erfuellen sie bis heute. Sie sind also in erster Linie eine Einschaetzung der Qualitaet einer Stadt von der Aussenperspektive und somit fuer Menschen gedacht, die die Stadt nur voruebergehend und von aussen erleben. Ausserdem beurteilen sie Infrastrukturen: von Verkehr ueber Bildungs- und Gesundheitswesen bis zur persoenlichen Sicherheit der Einwohner. Und hier zeigt sich, dass es in jedem jaehrlichen City-Ranking neue Stars gibt, die durch Verbesserung solcher Infrastrukturen ploetzlich Spruenge um Zehnerpositionen nach vorn machen: So hat sich Singapur inzwischen ins vordere Mittelfeld katapultiert, auch Dubai oder Prag haben grosse Fortschritte erzielt. Wenn es also um die Regenerung oder Neuentwicklung von Verkehrsnetzen, um internationale Standards von Infrastrukturen geht, heisst es heute oft, nicht vom Westen, sondern von Schwellenlaendern zu lernen.
Die eigentliche Schwaeche dieser Reports erweist sich aber darin, dass sie von einer universalen Vorstellung von Qualitaet ausgehen, die es im Grunde – aller Globalisierung zum Trotz – nicht gibt. Chinesen, Italiener und Peruaner haben eben jeweils ihre eigene Art, das Leben schoen oder haesslich zu finden, jenseits perfekter oder maroder Infrastrukturen. Im Grunde kann Qualitaet nur gemessen werden, wenn man die Menschen in den Staedten selbst in die Umfrage einbezieht. Man stelle sich die Kosten und Komplikationen vor, die dies fuer 400 Staedte zwischen Buenos Aires und Seoul bedeuten wuerde.
Lebensqualitaet ist also auch ein stadtspezifischer Wert. Ueber das Verhaeltnis zwischen den Deutschen und den Franzosen heisst es zum Beispiel: Die Franzosen arbeiten, um zu leben, die Deutschen leben, um zu arbeiten. Die Schweiz hat vor wenigen Wochen in einem Referendum ein Gesetz abgelehnt, das die Verlaengerung des Mindesturlaubs im Lande auf sechs Wochen vorgesehen haette. Die Sauna wird in Hong Kong oder Nairobi vermutlich weniger essentiell gesehen als in Pieter, und Japaner wuerden sich wahrscheinlich nie an Bratwuerste oder Borschtsch gewoehnen.
Im vergangenen Herbst habe ich im suedlichen Bhutan folgende Geschichte erlebt. Gesucht wurde ein Bauer, der dank der Anwendung einer modernen Anbaumethode, die aus China importiert worden war, im Jahr zuvor seine Reisertraege mehr als verdoppelt hatte. Die Regierung wollte den erfolgreichen Bauern in den Medien feiern lassen, damit sich andere von der neuen Anbaumethode animieren liessen. Der Bauer wurde erst nach langer Suche gefunden: Er hatte seinen Hof verlassen und sich fuer ein Jahr in ein buddhistisches Kloster zurueckgezogen, um auf seine Weise den Verdienst der letzten Ernte zu geniessen. Das Prinzip von Erfolg und Wachstum schien ihn nicht zu bekuemmern, und so taugte er auch nicht fuer die staatliche Propaganda.
Die Qualitaet von Staedten ist also schwer messbar. Zweifellos haengt sie aber davon ab, wie sich die Bevoelkerung zu ihrer Stadt selbst verhaelt. Die Stadt, das sind eben nicht so sehr Gebaeude und Strassen. The City is the people, heisst es bei Shakespeare. Und insofern laesst sich doch noch etwas Wichtiges aus den City-Rankings ablesen. Nicht zufaellig stehen naemlich Staedte aus Kanada, Australien, Mittel- und Noreuropa an der Spitze. Vancouver, Sydney oder Wien mooegen zwar an Hipness von anderen uebertroffen werden, aber diese Staedte haben eine eigentuemliche Selbstverantwortung ihrer Bevoelkerungen entwickelt. Vieles, was in Zuerich, Amsterdam oder Frankfurt gut funktioniert, funktioniert, weil es von Menschen angeregt und umgesetzt worden ist, nicht von Behoerden. Die Lebensqualitaet einer Stadt bemisst sich entscheidend daran, inwieweit die Bevoelkerung die Gestaltung ihrer Stadt zu ihrer Sache macht. Natuerlich ist das nirgendwo von heute auf morgen moeglich geworden. Buergerengagment muss von Regierungen verstanden werden, und die Bueger selbst werden sich nur engagieren, wenn sie daran glauben, dass sich ihr Engagement auch lohnt.
Mit Blick auf den aktuellen Fruehling liesse sich sagen, dass die Chancen fuer Moskau und andere russische Staedte vielleicht gar nicht so schlecht stehen. Den Umfragen nach den juengsten Wahlen zufolge hat ein Drittel der Demonstranten erklaert, sie seien bereit, in Organen lokaler Selbstverwaltung taetig zu werden. Dazu gehoert auch ein Stueck Optimismus. Einer anderen Umfrage nach den Wahlen zufolge haben sich zwei Drittel derselben Schicht von Befragten als glueckliche Menschen bezeichnet. Vielleicht sind die Aussichten auf eine kuenftige Lebensqualitaet in Moskau besser, als die City-Rankings von heute behaupten.
Erschienen auf gazeta.ru.