Michael Schindhelm | VORTRAG ZUR LANDESKULTURKONFERENZ SONDERSHAUSEN

Vortrag zur Landeskulturkonferenz Sondershausen

Sehr geehrter Herr Minister,

Sehr geehrte Damen und Herren Landraete, Oeberbuergermeister und Buergermeister,

meine Damen und Herren,

ich bin sehr gerne heute mit von der Partie, wenn es um die Entwicklung eines Konzepts und Leitbildes fuer die Kultur in Thueringen geht. Geboren und aufgewachsen in Eisenach und Bad Liebenstein, spaeter den Weg zum Theater in Nordhausen suchend und findend, in einer bewegenden Zeit kurz nach dem Fall der deutsch-deutschen Grenze, spaeter an politisch und kuenstlerisch komplizierten und weitreichenden Umstruktierungen in Nord- und Ostthueringen beteiligt, koennte ich von keiner Landschaft in Deutschland mit aehnlichem Recht sagen, sie sei so etwas wie meine Heimat.

Zugleich bin ich ein bisschen aufgeregt, wenn ich vor Ihnen ueber die Bedeutung von Kultur in Thueringen sprechen soll. Ich habe diesem Land vor fuenfzehn Jahren den Ruecken gekehrt und seitdem (bis auf einen maessig erfreulichen Ausflug nach Berlin) die meiste Zeit im Ausland gearbeitet. Fuenfzehn Jahre, bilde ich mir ein, ist auch in Thueringen eine lange Zeit, also muss eine Menge passiert sein, das ich nur aus der Ferne beobachtet habe, wenn ueberhaupt.

Es ist demnach Vorsicht geboten, Ihnen gegenueber den Eindruck zu vermitteln, ich wuesste Bescheid. In gewissem Sinne haben wohl alle von Ihnen ein bestimmtes Recht zu sagen, Sie verstuenden besser als ich, was in Thueringen Not tut und was nicht, wenn es um Kultur geht. Ich sollte Ihnen gegenueber also gar nicht erst den Eindruck erwecken, ich sei in den wesentlichen Fragen der Thueringer Kulturpolitik schon deshalb kompetent, weil ich vielleicht noch einen leisen Stallgeruch habe und bei der Gestaltung der Thueringer Theater- und Orchesterlandschaft in verschiedenen Funktionen nach 1990 mitgewirkt habe.

Ich schicke dies voraus, weil ich mich noch gut erinnern kann an die ersten Jahre nach der Wende, als so mancher „von draussen“, meist aus dem Westen unseres Landes, sich an der Debatte ueber die Zukunft der Kultur in Ostdeutschland und speziell in Thueringen beteiligte und oft mit grossem Selbstbewusstsein vortrug, was er fuer richtig hielt und was fuer falsch. Uns Kulturschaffenden aus der ehemaligen DDR schien das manchmal oberflaechlich oder sogar arrogant, meinten wir doch, ohne unmittelbare Erfahrung mit den Menschen in diesem Land und ihren kulturellen Organisationen sei es im Grunde unmoeglich, ein Urteil darueber abzugehen, wo die Reise im neuen Deutschland fuer uns hingehen muesse.

Inzwischen bin ich selbst jemand, der in andere Laender reist und den Menschen dort seine Beobachtungen ueber die Entwicklung ihrer Kultur mitteilt und oftmals versucht, Ratschlaege zu geben, wie man diese weiterentwickeln sollte. Dabei beschleicht mich nicht selten die Erinnerung an jene Zeit von 1990 und kurz danach, als ich gewissermassen auf der anderen Seite sass, auf der der Empfaenger von Ratschlaegen naemlich, die nicht immer an die Tragfaehigkeit dieser Ratschlaege geglaubt haben.

Ich bin dankbar fuer diese Erinnerung, weil sie mich vorsichtig gemacht hat. Ob Hongkong, Dubai, Basel, Berlin oder Sondershausen: Ein Einzelner hat nie fertige Antworten. Das Gute an unserer Gesellschaft ist ja, dass man sich relativ ungehindert ueber seine oft kontroversen Meinungen austauschen darf, bevor aus Meinungen Antworten und sogar Entscheidungen werden. Insofern begruesse ich sehr Ihren Ansatz, Herr Minister, die Entwicklung eines Kulturkonzepts nicht im stillen Kaemmerlein Ihres Ministeriums auszubrueten, sondern jene Kraefte und Institutionen in dieses Nachdenken einzubeziehen, die von den Konsequenzen betroffen sind.

Und es ehrt mich natuerlich, an dieser Diskussion teilnehmen zu koennen, es ist geradezu ein Luxus, bin ich doch nicht unmittelbar beteiligt. Mittelbar aber eben doch, denn Thueringen ist nicht nur der Ort meiner Kindheit (auch beruflich gesehen), sondern der eigentliche magische Ort unserer deutschen Nationalkultur. Ich werde Ihnen spaeter versuchen darzustellen, wie ich das meine.

Gestatten Sie mir eine kurze Erklaerung, warum dieser Ort fuer mich persoenlich so wichtig geblieben ist: Wenn Sie im Ausland leben, muessen Sie sich viel oefters als zu Hause mit Ihrer Herkunft und nationalen Identitaet auseinander setzen. Im Ausland sind Sie viel mehr ein Deutscher als zu Hause, wo Sie das nicht zu jeder Gelegenheit zu spueren bekommen, denn wo nahezu alle „deutsch“ sind, muss man sich nicht darueber den Kopf zerbrechen, was das heisst. Ich habe schon frueher einmal, waehrend fuenf Jahren Studiums in der Sowjetunion, aber auch in den letzten fuenfzehn Jahren im Ausland intensiv erleben koennen, was es heisst, ein Deutscher im Ausland zu sein. In Russland, Frankreich, Polen und Israel beschwoert man zum Beispiel immer noch duestere Erinnerungen, in Dubai oder China kommt man aus der Heimat der Porsches und Daimlers, in der Schweiz repraesentiert man eine Nation, die sich arrogant und ignorant ueber die Eigenheiten des helvetischen Gemeinwesens hinwegsetzt etc.

Mit anderen Worten, das Ausland macht einen Kulturtechniken erlernen, wie man in einer fremden Umgebung mit den verschiedenen Facetten der eigenen nationalen Identitaet umgeht. Und gleichzeitig fragt man sich natuerlich nach der Relevanz dieser Facetten an einem selbst: Wieviel Porsche, wieviel Arroganz oder gar wieviel Totalitarismus stecken etwa in mir?

Unter solchen Umstaenden hilft es sehr zu wissen, wo man tatsaechlich herkommt. Ich weiss nicht, wie es anderen Leuten geht, aber ich sage immer, wenn ich im Ausland dazu die Gelegenheit bekomme, ich sei in jener Stadt geboren worden, in der Luther die Bibel uebersetzt hat und Johann Sebastian Bach das Licht der Welt erblickte. Und ich empfinde das nicht als Propaganda: Nichts hat wohl mein Denken mehr gepraegt als die protestantische Aufklaerung, nichts meine musikalische Empfindung mehr als der Kosmos des Bachschen Kontrapunkts.

Damit habe ich zwar keine Antwort darauf gegeben, welche Bedeutung die Kultur fuer Thueringen hat, aber vermutlich fuer die Thueringer. Nach meinem Eindruck gehoert der Thueringer zu einem bescheidenen Menschenschlag. Vielleicht liegt es an seiner protestantischen Praegung, vielleicht an der historischen Kleinteiligkeit seines Gemeinwesens. Der Thueringer macht kein grosses Aufhebens um sein Thueringer-Sein (anders als der Bayer oder Sache). Gleichwohl weiss man hier: Kultur ist die zuverlaessigste Beziehung, die wir zu unserer Heimat haben und die uns zugleich an unser Gemeinwesen bindet. Sie ist unsere ueberpersoenliche Wurzel zum Ort unserer Herkunft.

Diese Wurzel reicht tief in den Boden, ist knorrig, stark und bricht muehevoll den Asphalt der Gegenwart auf, wo er denn duenn aufgetragen wird, um dem Zeitgeist und der aktuellen Kunst freie Bahn zu gewaehren. Dieses Aufbrechen ist nicht ungefaehrlich, sowohl fuer die Wurzel, als auch fuer die Gegenwart. Sie werden mir eventuell zustimmen, dass das Verhaeltnis zwischen Tradition und Innovation eine komplizierte Sache ist, uebrigens nicht nur fuer Thueringen, sondern fuer Deutschland insgesamt. Wir bewundern das Erbe, und wir spueren seine Last. Wenn man in Schwellenlaendern arbeitet, die weder diese Bewunderung, noch jene Last kennen, laesst man sich vielleicht rasch von der Leichtigkeit einnehmen, die solche Gesellschaften ausmacht. Zugleich aber schaut man zurueck auf den Ort, wo man herkommt, sieht dessen unermesslichen Zivilisationswohlstand und macht sich Sorgen darum, weil man das Gefuehl nicht los wird, zu Hause begreife man gar nicht, wie reich man eigentlich sei, an Wissen, Erfahrung, Talent, aber auch Repertoire, Sammlungen, Kunstbauten und – ja immer auch noch an Betriebsmitteln, an Geld. Und man begreife ausserdem zu wenig, wie sehr dieser Reichtum gefaehrdet ist, wenn er nur an- und nachgebetet wird und das Verhaeltnis zwischen der Wurzel und der Gegenwart nicht mehr stimmt.

Auch wenn ich hier keine fertigen Antworten geben kann, moechte ich doch diese Beobachtung loswerden: Die Zukunft Thueringens als Kulturlandschaft wird entscheidend davon abhaengen, wie dieses Land sein Verhaeltnis zwischen Wurzel und Gegenwart gestaltet. Nach meinem Eindruck muesste es zugunsten von beidem neu gerichtet werden, zugunsten der Tradition und der Innovation. Eine besondere Rolle wird hierbei unserem Kulturbegriff zukommen. Man koennte sagen, jede Nation entwickelt bis zu einem gewissen Grade ihre eigene Kultursoftware. Es gibt also ein Betriebssystem Deutschland und sogar ein Betriebssystem Thueringen, das dahingehend ueberprueft werden muesste, wie effektiv es auf die Ansprueche aus dem zeitgenoessischen, jeweils heutigen Kulturraum reagiert, sprich, das Betriebssystem braucht von Zeit zu Zeit einen Update.

In meiner beruflichen Erfahrung habe ich mir ein wenig Thomas Manns Maxime zu eigen gemacht, der auf politische Zusammenhange bezogen einmal erklaerte, wenn das Boot zu weit nach links kippt, lehne er sich nach rechts und umgekehrt. Ich befinde mich heute oft in der paradoxen Situation, Regierungsorganisationen in Asien auf die Vorteile des Betriebssystems deutscher Kulturfoerderung und –pflege gegenueber zum Beispiel dem angelsaechsischer aufmerksam zu machen, waehrend ich in Deutschland selbst die Nachteile unseres Betriebssystems kritisiere.

Als wir vor zwei Jahren in Dubai einmal eine Ausstellung mit den aeltesten Fotografien von islamischen heiligen Staetten vorbereiteten, sah ein alter Beduine den Vorbereitungen des Ausstellungsarchitekten in einer Shoppingmall zu. Der Beduine schien an einem der natuerlich sehr wertvollen, weil inzwischen 150 Jahre alten Fotos besonderen Gefallen zu finden und fragte den Ausstellungsmacher, was fuer einen Preis er fuer das Foto verlange. Der (aus Deutschland stammende) Museumsmann erklaerte dem betagten Emiratie, das Foto sei unverkaeuflich. Aber der Beduine liess sich zunaechst nicht abschuetteln, insistierte, machte Angebote. Der Architekt schuettelte irgendwann nur noch den Kopf, und der Alte schien seines Weges zu gehen. Nach einer Weile kam er aber zurueck und hatte eine letzte Frage an den Mann aus Deutschland, naemlich: Wenn Du die Bilder nicht verkaufen willst, warum stellst Du sie dann ueberhaupt aus?

Die Geschichte liegt knapp zwei Jahre zurueck. Dann kam die Zeit der Boersen- und schliesslich Finanzkrise an der Wallstreet, von der sich die Welt nach wie vor nicht erholen will. Ich hatte mich – mit Unbehagen – daran gewoehnt, in China oder dem Mittleren Osten unter Politikern aber auch Kulturschaffenden die erhaertete Meinung zu hoeren zu bekommen, die US-amerikanischen Kulturinstitute seien Vorbild fuer ihre eigenen Vorhaben in Schanghai, Hongkong, Singapur oder Dubai. Nur die Amerikaner haetten es wirklich geschafft, Kultur wie ein Business aufzuziehen und nahezu ohne Subventionen auszukommen, und dennoch die besten Ausstellungen zu zeigen, riesige Sammlungen zu kaufen und die tollsten Saenger und Kuenstler zu engagieren. Man hoerte oft nicht besonders gern, dass ich auf den Umstand hinwies, die Metropolitan Opera oder das Museum of Modern Art bekaemen zwar kaum oder gar keine Subventionen, lebten aber von Spenden und Sponsorengeldern, die die Geber jeweils von der Steuer abziehen koennten. Das amerikanische Philantropie-Modell basiere darauf, dass der Staat auf Steuern verzichte und reichen Leuten bis zu einem gewissen Grad selbst ueberlasse, wo sie sich engagieren wollten. Spenden und Sposorengelder seien also Steuern, auf die der Stadt verzichte.

Die grossen Kulturinstitute der USA gehoerten zu den ersten schweren Opfern der Finanzkrise im Herbst 2008. Jene Philanthropen, die bislang fuer die Museen und Opern gestiftet hatten, hatten jetzt sehr viel Geld verloren und konnten bekanntlich einen Teil ihres Vermoegen im Grunde nur durch die staatliche (also oeffentliche) Intervention mit Steuergeldern retten und hatten dann erst einmal nichts Besseres zu tun, als den Steuerzahler, dem sie ihr Ueberleben zu verdanken hatten, mit dem Entzug ihrer Spenden zu bestrafen. Nahezu alle grossen Kultureinrichtungen der USA fuehren derzeit nahezu ein Schattendasein.

Ich koennte weitere Beispiele fuer unterschiedliche Kulturbegriffe und Betriebssysteme anfuehren. Die Vorteile des hiesigen, deutschen, Thueringer Systems liegen auf der Hand: Kultureinrichtungen , die Ihre Existenz einer staatlichen Pflege verdanken, fuehren ein weitaus ruhigeres Leben als fast ueberall sonst auf der Welt. Fuer Sie mag und muss die Ruhe relativ und truegerisch sein, aber die Metropolitan Opera in New York hat allein im vergangenen Jahr fast ein Viertel ihres Personal abbauen muessen. Anders als durch das Betriebssystem Deutschland ist die einzigartige Theater- und Orchesterlandschaft des Freistaates gar nicht zu verstehen. Die Frage – und nun nehme ich wieder die Rolle des Kritikers im eigenen Land ein – ist jedoch, ob Sicherheit wirklich alles ist und inwiefern Sicherheit eine Garantie fuer Qualitaet ist oder dafuer, dass das sensible Verhaeltnis zwischen Tradition und Innovation nicht in bedenkliche Schieflage kommt.

Zugespitzt gibt es vielleicht zwei Moeglichkeiten, die Lage der Kultur in diesem Freistaat zusammenzufassen: Man koennte einerseits sagen, Thueringen habe es geschafft, in den beiden Jahrzehnten des neuen Deutschlands seine Position als Heimat der deutschen Klassik zu festigen. Die Stiftung ist eine stabile und erfolgreiche Institution von internationaler Bedeutung, mit dem Kunstfest Weimar gibt es eine Oeffnung zum zeitgenoessischen Festival, ueberhaupt haben sich die Einrichtungen mit weltweiter Ausstrahlung etabliert, die Wartburgstiftung kommt wohl sogar ohne Steuergelder aus; bei den Theatern, Orchestern und Museen ist ein Kahlschlag vermieden worden, der Residenzcharakter der Kulturlandschaft ist dank und trotz einiger erfolgreicher Strukturveraenderungen noch erkennbar; die Finanzierung der Kultur durch den Freistaat ist gerade noch einmal erhoeht worden, man setzt auf Partnerschaften mit den Rechtstraegern. Laut Pisastudie foerdert Thueringen ueberdurchschnittlich viele gut ausgebildete Schueler zutage, und schliesslich: die Lebenswartung in Thueringen ist immens angestiegen.

Man koennte die Dinge aber auch so sehen: Einige der landeswichtigen Kultureinrichtungen sind substantiell gefaehrdet und oftmals schon weitgehend ausgehoelt, was mancherorts Oper genannt wird, ist eigentlich nur noch ein Kammertrauerspiel, bestehende Vertraege ueber finanzielle Zuschuesse taeuschen ueber faule Kompromisse und Grenzen der Erhaltung von Orchestern, Theatern und Museen auf lange Sicht, die Bevoelkerung im Freistaat ist an der (allerdings sehr weitraeumigen und auch kulturell bedeutenden) Peripherie massiv zurueckgegangen und soll weiter zurueckgehen, es mangelt an Aufbruch und Innovation im Kulturland der Klassiker, Thueringen ist wie schon in Zeiten der Armut das gruene Herz Deutschlands, und das mag auch schoen sein, hat aber nur unter ferner liefen mit dem Stellenwert seiner Kultur zu tun; Thueringen, koennte man also auch – zugespitzt – sagen, die Mitte Deutschlands, liegt irgendwie sowieso demografisch, logistisch, aber auch intellektuell am Rand.

Ich weiss, das hoert sich nicht gut an und vernachlaessigt bestimmte Aspekte, aber die wesentlichen Trends sind wahrscheinlich in ihrer Doppeldeutigkeit eingefangen.

Diese Zusammenhaenge moegen fuer Sie Alltag und Anlass zur Sorge sein, wie sie mich nachdenklich stimmen. Wahrscheinlich tut es trotzdem Not, die Lage nuechtern und kritisch ins Auge zu fassen. Das Jahr 2010 markiert vielleicht den geeigneten Moment fuer einen Rueck- und einen Vorausblick. Zwei Jahrzehnte wiedervereinigtes Deutschland, neu gegruendetes Thueringen: Es ist, als haetten die Nation und der Freistaat die Pubertaet hinter sich, die Reifepruefung sei geschafft. Nun ginge es darum, mit dem Erwachsenensein umzugehen. Und das ist nicht nur angenehm.

Noch einmal die Bevoelkerungsentwicklung: Seit 1990 12 % Rueckgang, bis 2020 noch einmal 10 %. Offenbar findet eine immer staerkere Konzentration entlang der Staedtekette zwischen Eisenach und Jena statt, der Sueden, Osten und Norden scheinen irgendwie abgehaengt. Und so steht es dann auch um die Details: Die Zahl der 16- bis 25-jaehrigen soll um 44 % abnehmen, der der ueber 80-jaehrigen um 65 % steigen. Wie urban kann der Freistaat werden? Im Moment machen 97 % der Gemeinden, 95 % der Flaechen und 80 % der Bevoelkerung einen dominierenden Anteil laendlichen Raumes aus. Dem Demografiebericht des Freistaats aus dem Jahr 2006 zufolge entscheiden sich die Menschen entsprechend harter Standortfaktoren fuer oder gegen eine Zukunft in Thueringen: Erst kommt das Fressen, dann die Moral. Aber derselbe Bericht macht im Grunde keine Aussage dazu, wie Technologie und Innovation weiche in harte Standortfaktoren umwandeln koennte, und im Zusammenhang mit der Rolle von Kultur fehlt der Hinweis auf Innovation vollstaendig.

Und noch etwas, das nachdenklich stimmt. Man muss nicht immer allen Laerm ernst nehmen, den der Zeitgeist so verursacht, aber es hat sicherlich seine guten Gruende, dass alle Welt derzeit ueber die Kreativwirtschaft und ihre Rolle bei der Entwicklung der Arbeitsmaerkte spricht. Auch das Thueringer Ministerium fuer Bildung, Wissenschaft und Kultur hat einen Bericht in Auftrag gegeben. Ergebnis: Es ist gar nicht so leicht herauszufinden, wie gross das Volumen im Kultursektor ist, es liegt irgendwo zwischen 1 und 1,5 Mrd Euro. 25 % der Ausgaben entfallen auf die oeffentliche Hand, also auf Subventionen, in Niedersachsen sind es nur 10 %. Die meisten der Wirtschaftszweige repraesentieren klassische Bereiche wie Druck und Bau. Da bekommt man nicht unbedingt den Eindruck, Kultur sei ein Wirtschaftsmotor der Zukunft.

Meines Erachtens muesste die Diskussion um die Kultur in Thueringen auf zwei Ebenen gefuehrt werden. Interessanterweise verkoerpern Sie hier heute auch beide Ebenen. Einerseits geht es um die zweifelsohne wertvolle und unverzichtbare Aufgabe, fuer den Freistaat ein kulturelles Leitbild zu entwickeln. Das ist der wesentliche Grund fuer diese Konferenz und alle damit im Zusammenhang stehenden derzeitigen politischen Bemuehungen. Und unstreitig sind Sie so etwas wie die aktuelle Denkfabrik, um diesem Leitbild eine Gestalt zu verleihen und es im kuenftigen Alltag wirksam umzusetzen. Man koennte also sagen, alle Kulturschaffenden und –verantwortlichen haben in der einen oder anderen Form derzeit die Moeglichkeit, sich an einem Konzept fuer die Weiterentwicklung von Thueringens Kulturinstitutionen, Initiativen und Inhalten zu beteiligen. Am Ende sollte dieses Konzept der Beginn einer Selbstvergewisserung ueber die kulturelle Identitaet werden und ueber die Entwicklung, die sie in den kommenden Jahrzehnten nehmen sollte. Tatsaechlich tut diese Selbstvergewisserung 20 Jahre nach der Wiedergruendung des Landes Not, unabhaengig davon, wieviel Geld Bund, Land und Kommunen dafuer augenblicklich und in naechster Zeit zur Verfuegung stellen koennen.

Die Diskussion um die Kultur in Thueringen ist aber meines Erachtens auch noch auf einer anderen Ebene zu fuehren. Und ein Teil von Ihnen, jener naemlich, den man als den unmittelbar politischen bezeichnen koennte, duerfte ein originaeres Interesse daran haben, die Frage nach einem Leitbild fuer Thueringen in einen weiteren und damit grundsaetzlicheren Kontext zu stellen. Eigentlich lautet doch die zentrale Frage: Wie wichtig ist die Kultur fuer Thueringen? Die Frage nach der Rolle von Kultur mag sich ueberall stellen, und sie wird wahrscheinlich in Schleswig Holstein anders als in Berlin anders als in Sondershausen beantwortet werden. Wie wichtig ist die Kultur? Gestatten Sie mir dieses intellektuelle Angebot: Wenn es Ihnen ernst ist mit der Entwicklung eines Leitbildes, und ich zweifle nicht daran, dann muss die Kultur das Kernstueck der Identitaet Thueringens sein. Und wenn dies der Fall waere, dann muesste der Zustand der Kultur Thueringens nachweisbar unmittelbare Konsequenzen haben fuer viele andere gesellschaftlichen Bereiche im Freistaat. Die kulturelle Entwicklung des Landes muesste aufzeigen, wo es mit der gesamten Gesellschaft in Thueringen hingehen soll, wo die Staerken und die Schwaechen dieser Geselschaft liegen, was also zu staerken und was zu schwaechen ist. Das Leitbild muesste eine Formel finden fuer ein ausgewogenes Verhaeltnis zwischen besagter Wurzel und der Gegenwart, es muesste ein verstaendliches und neugierig machendes Angebot an Menschen ausserhalb Thueringens und Deutschlands sein, Thueringens Kultur zu entdecken und zu erleben, ja, vielleicht sogar, nach Thueringen zu ziehen und seine Gesellschaft zu bereichern. Und schliesslich: Es muesste eine Strategie vorschlagen, wie problematische demografische Entwicklungen im Land aufgehalten und umgekehrt werden koennen und sich aus einem kostentraechtigen weichen Standortfaktor ein immerhin haerterer Standortfaktor der Kreativindustrie entwickeln laesst.

So verstanden, waere die Formulierung eines Leitbildes eine gesamtpolitische Aufgabe.

Nun kann man nie darauf bauen, dass alle gesellschaftlichen Kraefte sich auf eine Sache konzentrieren lassen. Es liessen sich aber sicherlich potentielle Partner ermitteln, die fuer die Generierung einer uebergreifenden Idee fuer die Zukunft des Freistaates in Gestalt eines kulturellen Leitbildes nahezu unverzichtbare waeren. Ich spreche von jenen Bereichen aus Politik, Wirtschaft, Bildung und Kommunikation, die den eigentlichen Kontext der Kultur bilden und daher auch besonders vom Zustand derselben betroffen sind. Was der Kultur Thueringens gut, wenn nicht nottaete, waere ein Buendnis aus Forschung, Bildung, Tourismus und kreativer Industrie. Ein Blick in die Verhaeltnisse anderer Bundeslaender kann dabei hilfreich sein, nach Sachsen etwa, oder nach Baden Wuerttemberg, Laender mit einem aehnlich fulminanten kulturellen Erbe und ehrgeizigen Bemuehungen, dieses Erbe in und fuer die Zukunft zu retten. Ohne das Selbstbewusstsein der Kultur und ihrer Vertreter in diesen Bundeslaendern, sich als Kern der Landesidentitaet zu begreifen und anderen begreiflich zu machen, dass das, was sie ausmacht, sie jeweils KULTURELL ausmacht, waere der Erfolg von Tourismus und kreativer Industrie, Innovation und Bildungsangeboten in diesen Laendern nicht zu erklaeren.

Insbesondere jenen unter Ihnen, die mit einem politischen Mandat ausgestattet sind, scheint mir also eine Doppelrolle zuzukommen bei der Neudefinition der Kultur in Thueringen: Einerseits wird eine aktuelle Bewertung und Interpretation der Kulturlandschaft Thueringens ganz massgeblich von Ihrem Mitwirken abhaengen. Darueber hinaus liegt es aber in Ihren Haenden, die Latte etwas hoeher zu legen, den Aufgabenbereich fuer ein Leitbild zu erweitern und jene Verbindungslinien in den politischen Raum des Freistaats einzuzeichnen, die die Vernetzung der Kultur mit wesentlichen Entwicklungspotentialen aus Politik, Wirtschaft und Bildung aufzeigen.

Gestatten Sie mir, noch einmal von aussen auf Thueringen zu schauen. In Vorbereitung auf diese Konferenz habe ich siebzehn Freunde und Kollegen aus China, den Vereinigten Arabischen Staaten, Jordanien, dem Libanon, Singapur, den USA, aus Frankreich, England, Russland, Italien und der Schweiz dazu befragt, wer ihrer Meinung nach (abgesehen von Politikern) die zehn einflussreichsten Deutschen aller Zeiten (gewesen) seien. Nicht einmal die Haelfte der Befragten hat im engeren Sinne beruflich mit Kultur zu tun. Folgende Namen tauchten am haeufigsten auf:

Albert Einstein, Marlene Dietrich, Ludwig van Beethoven, Michael Schumacher, Albert Schweitzer, Luther, Bach, Goethe. Luther, Einstein und Goethe wurden am haeufigsten genannt.

Die Umfrage ist natuerlich nicht repraesentativ, aber sie bestaetigt eine Reihe von haeufig formulierten Vermutungen. Zum Beispiel, dass viele der wichtigsten Deutschen oft aus politischen Gruenden ins Exil gegangen sind. Unter den acht Aufgefuehrten befinden sich im Grunde nur drei, die Deutschland ihr Leben lang treu geblieben sind: Goethe, Luther und Bach. Friedrich Nietzsche hat Luther und Bach einmal der Gattung der ausgestorbenen Deutschen zugerechnet. Vielleicht war es vor ein paar Jahrhunderten einfacher, in Deutschland zu leben, als insbesondere im katastrophenbeladenen 20. Wie auch immer: Luther, Bach und Goethe zaehlen unstreitig zu den wichtigsten deutschen Menschen aller Zeiten. Kein heutiges Bundesland kann von sich sagen, die individuelle Lebensgeschichte dreier solcher Menschen sei so eng verbunden mit der Landeskulturgeschichte wie Thueringen das von seiner Geschichte behaupten darf. Drei der groessten Geister aller Zeiten, vielleicht die wichtigsten Deutschen unter ihnen, sind unloesbar mit dieser Landschaft verbunden. Wahrscheinlich liegt in diesem Phaenomen, das man heutzutage sicherlich als ein Alleinstellungsmerkmal bezeichnen wuerde, sowohl der Glanz als auch der Fluch fuer Thueringens Kultur begruendet.

Doch es sind ja nicht nur ein paar Genies, die Thueringens Kultur ausmachen. Das Land besitzt Instituionen von Weltrang, das dichteste Theaternetz vielleicht der Welt, prachtvolle Kulturbauten, die in einigen Faellen auch an einst wachsende Urbanitaet erinnern. In Jena entstand das erste Hochhaus Deutschlands, in Gera die erste Kaufhauskette,Weimar steht ja auch fuer die Anfaenge der Moderne hierzulande. In Gotha begann mit Ernst dem Frommen die allgemeine Schulbildung, Froebel gruendete in Bad Blankenburg den ersten Kindergarten. Jena als Ort der Philosophie und der Feinmechanik, Sie kennen das alles besser als ich.

Der Berliner Regierende Buergermeister Wowereit hat Berlin einst als arm aber sexy bezeichnet. Ist Thueringen etwa reich, aber unsexy? Oder anders gefragt: Wir koennten Attribute, die diesem Gemeinwesen so haeufig zugeschrieben werden, Attribute wie klein, peripher, traditionsverhaftet, sich umwandeln lassen in Attribute wie reich, kreativ und traditionsbewusst? Wie koennte Thueringen ein Ort werden, an dem auf fuer Deutschland und vielleicht sogar Europa exemplarische Weise gezeigt werden koennte, dass Tradition und Geschichte weder von laehmender Wirkung sein muessen, noch neue Kreativitaet verhindern? Wie, dass eine Gesellschaft, eingebettet in europaeischer Kulturgeschichte, auf die Interventionen, die die kulturelle Globalisierung ausloest, aktiv und kreativ reagiert?

Es wird bei der Bewertung der Moeglichkeiten und Grenzen, Kultur als Kern der Identitaet Thueringens zu betrachten, wie gesagt auch darum gehen, die Unterschiede und Gemeinsamkeiten zu und mit den Nachbarn aufzuzeigen. Denn so verlockend es sein mag, z. B. Tourismuszahlen auf die eigene Situation zu extrapolieren, es ist eben auch gefaehrlich. Sicherlich darf und muss man dementsprechend nach Sachsen schauen, aber auch, um zu begreifen, was dort anders ist und nicht uebertragen werden kann. Sachsens Kultur ist im wesentlichen barock, opulent und repraesentativ. Und es ist gepraegt von der vielleicht wirklich gluecklichen, jedoch kurzen Zeit einer handfesten Monarchie mit einem sinnenfreudigen und weltgewandten Koenig an der Spitze.

Thueringens Kultur hingegen ist – trotz seiner hervorragenden Museen – vor allem dem Wort und der Musik verpflichtet, der intellektuellen Aufklaerung, spaeter (wenn auch ungluecklich) der Moderne. Man koennte vereinfacht sagen, der hiesige ideelle Reichtum steht dem materiellen saechsischen gegenueber. Im Zeitalter des Massentourismus liegt nahe, was zunaechst attraktiver erscheint. Aber so billig sind die Vergleiche dann doch nicht. Wenn die Bundesregierung von wenigen Jahren die Initiative Deutschland – Land der Ideen ins Leben rief, habe ich eigentlich immer an Thueringen gedacht, im engsten Sinne des Wortes Deutschlands Land der Ideen. Und noch etwas faellt mir dazu ein: Thomas Mann hat einmal Musik und Kritik als die beiden wesentlichen Beitraege der deutschen Nationalkultur zum Weltkulturerbe bezeichnet. Kaum irgendwo waren Musik und Kritik so zu Hause wie hier. Fuer die Musik gilt das ja irgendwie nach wie vor.

An Anknuepfungspunkten ist also kein Mangel. Das Problem ist ja nicht, woran, sondern was anknuepfen. Wie sehen kuenftige Leuchtkoerper fuer das Kulturland Thueringen aus, die ihre Energie aus dem Kraftwerk Tradition beziehen? Wie wird aus historischem Reichtum, mit Verlaub, Sex Appeal? Zumindest noch mehr, als Thueringen hier und da schon hat. Und natuerlich geht es ja nicht nur um sinnliche Attraktivitaet, sondern eben auch soziale Identitaet und deren kuenftige Bestimmung.

Die beiden vorliegenden Kulturkonzepte des Thueringer Fachministeriums zeigen auf, wie schwierig es ist, eine Antwort darauf zu finden, wie man den Status Quo veraendern koennte. In gewissem Sinne laesst sich sagen, es sei in den letzten zwanzig Jahren von den meisten Traegern, Subventionsgebern und Kultureinrichtungen fast alles richtig gemacht worden, um sich vor dem Absturz zu bewahren und eine stabile – wenn auch manchmal Seiten – -lage einzunehmen, mit der man selbst durch die kaerglichsten Winterhaushaltsdebatten kam. Der Kulturhaushalt des Ministeriums bildet genau das ab: Man versucht, die Institute von Weltgeltung so zu foerdern, dass sie ihre Geltung nicht verlieren, muss aber allein 50 % des Budgets fuer Theater und Orchester ausgeben, die man selbst fuer nur landeswichtig haelt und denen man keine internationale Bedeutung zuspricht, Jugendkultur wird nach Kraeften gefoerdert, die bildende Kunst steht im finanzpolitischen Hintergrund, die Gegenwart insgesamt, der Spielraum fuer Innovation scheinen im Haushalt kaum abbildbar. Das Ministerium – wie schon seit nun bald zwei Jahrzehnten – nimmt eine gewisse Fuersorgepflicht fuer die meisten groesseren Instituionen wahr und sieht sich vielleicht in der Rolle des sanften Tyrannen (im altgriechischen Sinne) bei der Verteilung der Mittel, waehrend die manchmal wahrscheinlich weniger sanften heutigen Residenzherrscher (im Thueringer Sinne) auf ihre Autonomie pochen, auch wenn die sich manchmal auf eine leere Kasse und einen hungrigen Kulturbetrieb beschraenkt. Bitte nehmen Sie mir diese parodistischen Beschreibungen nicht uebel, sie entstammen eigentlich meiner Erfahrung vom Anfang der neunziger Jahre, ich habe allerdings den Eindruck, in manchen Kontexten vergeht die Zeit langsamer hierzulande als anderswo.

Und das mag auch gut so sein. Denn nicht jede Fusion hat sich bewaehrt, und jene Berliner Opernstiftung, an deren Gruendung ich beteiligt gewesen bin, hat – negativ – gezeigt, dass Reformen von Traditionsbetrieben nur moeglich sind, wenn die Politik sie wirklich umsetzen will und sich bereit zeigt, dafuer auch politisch schwierige Entscheidungen zu treffen.

Es waere ungerecht, die Situation damit abzutun zu sagen, zwanzig Jahre Thueringer Kulturpolitik sei auch zwanzig Jahre Sparpolitik gewesen. Wenn es schon immer ums Geld gegangen ist, dann nicht nur, weil Geld immer knapp war, sondern auch, weil – vor allem in den Neunzigerjahren – die Kultur immer teurer geworden ist. Ich habe jedoch verstanden, dass die Regierung des Freistaats keineswegs nur aus fiskalischen Gruenden der Ueberzeugung ist, es sei an der Zeit, sich um die Zukunft weitere Gedanken zu machen. Der Minister hat bereits angekuendigt, es kann dabei nicht nur um die Verteilung von Mitteln gehen, so wichtig sie auch seien. Eine inhaltliche Neurorientierung muesste hierzulande wohl zwei Dinge beinhalten: Reform des Bestehenden und Innovation. In Sachen Reform waere wohl zu pruefen, was nach zwanzig Jahre mal sachter, mal heftiger Umstrukturierung an Reformpotential eigentlich noch vertraeglich und moeglich ist. Wie weit liessen sich vor allem die bestehenden grossen Institutionen, Museen wie Theater, neuen Inhalten und einem neuen Publikum gegenueber oeffnen, wie koennten sie ihre Rolle als zentrale Kulturinstitution in der jeweiligen Stadt neu definieren? Das kann nicht in einem Vortrag wie diesem beantwortet werden und bedarf erneuter Pruefung und kritischer Artikulation.

Und die Innovation? Mehr als noch vor fuenfzehn Jahren glaube ich heute, dass gerade unsere in Deutschland gewachsenen Strukturen nur bedingt zur Innovation von innen taugen. Ich bilde mir ein zu beobachten, dass innovative Prozesse und Strukturen vermehrt ausserhalb der bestehenden Institutionen wachsen. Jedes Land hat – wie eingangs beschrieben – seinen eigene Kulturbegriff. Auch der der Residenzstadt darf nicht statisch in die Zukunft fortgeschrieben werden.

Nach meinem Eindruck braucht die Kulturpolitik vor allem eine Mobiliserung neuer Kreativitaet. Diese Formen der Kreativitaet werden nicht ausschliesslich dem bisher ueblichen Thueringer Kulturbegriff entsprechen duerfen. Sie muessten vielleicht sowohl auf mehr Urbanitaet, als auch auf mehr Laendlichkeit setzen. Thueringen muesste seine regionalen Unterschiede vielleicht staerker akzentuieren, auch in seinen kulturellen Angeboten. Und diese Attraktivitaet muesste meines Erachtens fuer den Rest Deutschlands und international besser sichtbar gemacht werden.

Die Giesskanne spendet eine Weile Segen. Aber nicht auf ewig. Irgendwann reicht das Wasser nicht mehr fuer die Flaechen. Ich koennte mir vorstellen, Thueringens Staedte brauchen mehr urbane Angebote, die diese Staedte staedtischer machen, immerhin die Kultur dieser Staedte. Das wird nur durch die Entstehung von Clustern und Plattformen moeglich sein, in denen lokale und auswaertige Professionelle der Kreativwirtschaft kooperieren und immerhin kleinere Zentren der Gegenwarts- und Alltagskultur entstehen. Das mag auf den ersten Blick wieder nach Subvention aussehen. Es ginge aber um Investition, um – wenn Sie so wollen – Wirtschaftsfoerderung. Andernorts haben Wirtschafts- und Kulturministerium gemeinsam Foerderkriterien fuer die Kreativwirtschaft zur Schaffung sowohl neuer Arbeitsplaetze, als auch neuer Angebote entwickelt. Vielleicht ist dies in Thueringen bereits geschehen, ich hielte es jedenfalls fuer wertvoll zu analysieren, welche Standortvorteile Staedte wie Erfurt oder Jena gegenueber vergleichbaren Staedten in Deutschland in Sachen Kreativwirtschaft entwickeln koennten und wie Innovation mit wirtschaftlichem Potential zu binden und zu foerdern waere.

Zugleich gaelte es aber, auch dem so stark dominierenden laendlichen Raum Rechnung zu tragen. Und hier koennte Thueringen tatsaechlich Avantgarde sein: in der Wiederentdeckung der Landschaft als einem wesentlichen Kulturraum. Ich bin sicher, wir beoabchten heute weltweit zwei Trends: die Entstehung von Megastaedten und eine Landflucht mit der Konsequenz einer Ausduennung der ruralen Gebiete. Zugleich zieht es immer mehr Menschen hinaus in die Natur, um sich im Sturm des mediatisierten und logistisch anspruchsvollen Alltags einen Ausgleich in Ruhe und mit sich selbst gestatten zu koennen. Im (wenn auch sehr) Kleinen scheint Thueringen diesen Trends zu folgen: dem Zug vom Land in die Stadt und der Nutzung des laendlichen Raumes zur Rekreation. Was wird also aus der Landschaft? Wir koennen heute schon beobachten, wie laendliche Regionen gerade fuer Menschen in kreativen Berufen von grosser Attraktivitaet sind. Gestaetten Sie, prominente Beispiele zu zitieren: Palo Alto hat 6 000 Einwohner und ist der Geburtsort von Google. Albuquerque liegt in New Mexico und war 1975, als Bill Gates und Paul Allen Microsoft gruendeten, ein Provinznest am Rande der Wueste. Aber es gibt auch naeherliegende Beispiele: Die Toskana ist weltberuehmt fuer ihre Renaissancestaedte und deren unvergleichliche Schaetze. Sie ist aber auch beruehmt fuer ihre Landschaften, die zwischen den Staedten Florenz, Lucca, Siena oder Arezzo liegen. Die Landschaft ist dort nicht nur das Dazwischen, sondern der alternative Ort, an dem ein anderer Tourismus stattfindet und vor allem auch eine andere Kultur etabliert ist. Im Falle der Toskana genuegen vier Sommermonate, um den Mythos einer ewig schoenen und fruchtbaren und deshalb fuer Touristen und moderne Arbeitsnomaden gleichermassen attraktive Destination zu kreieren. Suedbaden oder die Oberpflanz haben sich auf ihre Weise als Kultur-Landschaften in Deutschland etabliert. Man muss Thueringen nicht billig mit der Toskana gleichsetzen, um nicht doch Anregungen fuer die Interpretation der Landschaft als einen faszinierenden Kulturraum zu begreifen.

Meine Damen und Herren,

es war meiner Erinnerung nach 1996 anlaesslich des 150. Jahrestages der Gruendung des DBV, als der damalige deutsche Bundespraesident Richard von Weizsaecker einen Gedanken aussprach, der damals wie heute wuerdig ist, nachvollzogen zu werden:

Kultur, insbesondere Theater, sagte von Weizsaecker, sei ein Subventionsempfaenger, und als solcher nach deutschem Rechtsverstaendnis Luxus. Politik sei aber ebenfalls subventionsbeduerftig und folglich auch Luxus. Er, v. Weizsaecker, vertrete jedoch die Ansicht, es gebe notwenigen Luxus. Politik und Kultur seien solcher notwendiger Luxus.

Ich habe nicht den Eindruck, dass man bei Ihnen diese Auffassung nicht teile, Kultur sei notwendig, obwohl sie vielleicht auch Luxus ist.

Fuer grosse Teile der Welt liesse sich dieser Konsens leider nicht herstellen. Der Geldkapitalismus hat vielerorts die Moeglichkeit anderer als materieller Wertesysteme verhindert oder zerstoert. Meines Erachtens geht es jedoch nicht darum, dass wir uns in unserem Luxus verschanzen und die anderen „da draussen“ mit ihrem Geld den Rest des Globus regieren lassen. Vielmehr glaube ich, dass es in der einen oder anderen sehr konkreten Form auch darum gehen muesste, an dem heute stattfindenden globalen Wettbewerb der Kulturen aktiv teilzunehmen. Kuerzlich hat mir jemand berichtet, er sei zu einem Faust-Kongress nach Beijing eingeladen worden, der auf chinesische Initiative mit ein paar hundert Experten und Teilnehmern aus aller Herren Laender veranstaltet werden soll. In Singapur oder Hongkong, Abu Dhabi oder Rio beschaeftigen sich Regierungsorganisationen mit der Frage, wie man den Masterplan abendlaendischer Kultur auf ihre jeweiligen regionalen Gegebenheiten uebersetzen koennte. Solche Prozesse moegen erfolgreich sein oder (noch) nicht, sie belegen: Die neue Welt ist neugierig auf uns, auf unsere Tradition und unsere Gegenwart. Auf unseren Luxus.

Die Globalisierung wird auch in der Kultur tiefe Spuren hinterlassen, sie ist schon dabei. Bei uns moegen Veraenderungen nicht so rasch kommen wie in Dubai oder Schanghai, kommen werden sie trotzdem. Thueringen liegt nicht nur im Herzen Deutschlands, im 21. Jahrhundert liegt es auch am Meer. Thueringen liegt mitten im Internet, es liegt irgendwie schon heute im Reformationsjahr 2017 oder eben in China. Wenn die Kultur in Thueringen weiterhin ein forscher Akteur sein will bei der Gestaltung seiner Gesellschaft, wird sie sich in Teilen neu erfinden muessen. Thueringen, das Land der kleinen Residenzen, braucht neben allem Respekt vor der Tradition eine Neuformulierung seines Verhaeltnisses zur Kultur der Gegenwart. Diese Kultur ist glokal, die Welt und den eigenen Ort erfassend, sie ist temporaer und oft virtuell, sie bildet das Arsenal an Ausdrucksformen fuer unsere Nachkommen. Um diese Kultur zu ermoeglichen, werden Institutionen sich wandeln muessen und neue Gefaesse und Plattformen entstehen.

Erhaltung allein reicht also nicht. Mag die Liste der welt- und landeswichtigen Institutionen auch lang sein, die kulturelle Zukunft des Freistaates darf sich nicht auf die Abarbeitung dieser Liste beschraenken. Die Zukunft liegt in den Institutionen – und ausserhalb von ihnen. Dieses Ausserhalb kann auch innerhalb anderer bestehender Organisationen liegen. Zum Beispiel: Wir beobachten derzeit weltweit eine dramatische Verschiebung im Bereich der Produktion von Architektur und Design von West nach Ost. Die grossen Architekten, Modeschoepfer oder Grafikdesigner arbeiten heute vor allem im Mittleren und Fernen Osten. Zugleich dient das Formenarsenal der westlichen Moderne als Basis einer aesthetischen Innovation, die nur dann zu Vielfalt und Authentizitaet fuehren kann, wenn die neuen Schwellenlaender nicht ihre eigenen Wurzeln vergessen. In gewisser Weise stehen die Verhaeltnisse in China oder den Golfstaaten spiegelverkehrt zu unseren. Auch sie haben ein Problem mit der Balance zwischen Tradition und Innovation, nur umgekehrt.

Bislang fehlt es nach meinem Eindruck an einer sinnvollen, ernsthaften und offensiven Auseinandersetzung mit diesem Phaenomen in Deutschland. Waeren Ihre Hochschulen fuer Architektur und Design nicht ein moeglicher Ort fuer eine Denkfabrik, globale Kultur und ihre Auswirkungen auf die Traditionen z.B. dieses Landes zu untersuchen? Koennte durch eine solche Plattform nicht neue Kreativitaet nach Thueringen stroemen, ganz im Sinne der Herderschen Neugier auf die Stimmen anderer Voelker?

Die Stadt Karlsruhe hat vor 10 Jahren das Zentrum fuer Kunst und Medien gegruendet und damit ein nach wie vor einzigartiges Format fuer Forschung, Lehre aber vor allem auch neue kuenstlerische Auseinandersetzung an der Grenze zwischen Medien und Kunst geschaffen. Wenn Sie so wollen, hat das Zentrum fuer Kunst und Medien unser Verstaendnis fuer die Rolle von Medien fuer unsere Gegenwart veraendert. Es stuende Thueringen gut zu Gesicht, eine Idee zu entwickeln, die aehnlich innovativ ist, und einen Ort zu finden, der den geeigneten Genius loci besaesse.

Der Dichter aus Weimar empfand einst selige Sehnsucht nach einem Stirb und Werde und hielt, wer diese Sehnsucht nicht teile, fuer einen trueben Gast auf einer dunklen Erde. Wir wissen, Sie wissen, a la longue wird es fuer die oeffentliche Kultur eher weniger Geld aus der oeffentlichen Hand geben. Wir, also vor allem Sie, haben sich bereits in den letzten zwanzig Jahren daran gewoehnt, nicht mehr zu verlangen und deshalb den Guertel immer enger zu schnallen. Irgendwann ist aber das Konzept Engerschnallen am Ende. Oder wir schnueren uns die Luft ab.

Um das zu vermeiden, brauchen wir unorthodoxe Ideen. Etwas, das Thueringen schon ausgezeichnet hat. Ein Kulturleitbild ist eine Vision. Dabei geht es nicht um die kommende Haushaltsdebatte, sondern um eine mutige Behauptung dessen, was man z.B. in zwanzig Jahren sein und erreicht haben will. Es geht um Thueringen 2030. Nicht allein um seine kuenftige Kulturlandschaft, sondern um ein wuenschbares Selbst-Bild. Die Frage ist also: Was fuer ein Bild wollen Sie sich geben? Was fuer eine Geschichte ueber Thueringen wollen wir erzaehlen, uns, unseren Kindern, Nachbarn, all jenen, von denen wir wuenschen, dass sie uns zuhoeren moegen.

Vortrag auf der Kulturkonferenz Sondershausen in Thüringen, 2010. 

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