Michael Schindhelm | DEUTSCHLAND FüHRT SELBSTGESPRäCHE

Deutschland führt Selbstgespräche

Der Philosoph der Blasen und Sphären, Peter Sloterdijk, erzählte im Salzburger Festival-Sommer 2001 seine Version einer Phantasiegeschichte der Globalisierung und beschrieb darin das abgelaufene “Halbjahrtausend” als “Goldenes Zeitalter einer expansiven Einbildungskraft” Europas. Wir stünden am Ende dieser Geschichte mit der gefährlichen Ernüchterung, dass es keine Seefahrer mehr gebe, Eroberungen nicht mehr gemacht werden könnten und die Welt erreichbar geworden sei. Die abendländische Kultur habe sich im Kielwasser der Abenteurer, Händler und Kolonialisten über die Welt ausgebreitet. Das letzte Feld der Entdeckungen sei der Bildschirm.

Die kulturpessimistische Müdigkeit dieser Gedanken wirkte wie ein skeptischer Kommentar auf Francis Fukuyamas 1989 formulierte These vom Ende der Geschichte. Fukuyama hatte behauptet, mit dem Kalten Krieg sei möglicherweise das Ende “ideologischer Evolution”gekommen, eine Universalisierung der westlichen Demokratie als ultimativer Gesellschaftsform stehe bevor.

Tatsächlich lässt sich seit 1989 ein wachsendes Unbehagen des Westens in und an seiner alten Kultur erkennen. Keine Aussichten, weder gute, noch schlechte. Das Bild des Leviathan wird beschworen: der neue, hegemoniale Kapitalismus. Die Kunst der zweiten Postmoderne  lebt von der Rente ihrer historischen Autoritäten und ist fixiert auf das Zitieren und Interpretieren eines übermächtig scheinenden Imperfekts. Sie liebt das Geld und betreibt ihre Ökonomisierung: Während weite Teile der Bildenden Kunst oder der Klassischen Musik inzwischen kommerzialisiert sind wie Branchen der Popkultur, versuchen Unterhändler der öffentlich förderungsbedürftigen Kulturinstitutionen ihre Legitimität in der Sprache der Unternehmensberatung zu verteidigen: Theater oder Oper als Standortfaktor mit Umwegrentabilität.

Am 11. September 2001, wenige Wochen, nachdem Sloterdijk seine Rede in Salzburg gehalten hatte, platzte die Fukuyama-Blase. Der Westen musste erkennen, dass die Globalisierung, wie sie mit dem Ende des Kommunismus ihren Lauf nahm, politische und soziale Implikationen hatte, auf die er nicht vorbereitet war. Seitdem fühlen sich immer mehr Menschen in Europa bedroht und überfremdet. Das Referendum zum Minarettverbot in der (an sich fremdenfreundlichen) Schweiz ist nur das jüngste Indiz in einer langen Kette dafür, dass der Westen auf einem Isolationskurs ist.

Das gilt gerade für den Kunstbetrieb, allem staatlich organisierten Austausch zum Trotz. An der Ankündigung des Louvre, in Abu Dhabi eine Filiale zu errichten, entzündete sich in Frankreich und Europa eine heftige Debatte über den angeblichen Ausverkauf “unserer” Kultur. Selbst wenn manche Vorwürfe gerechtfertigt waren, sie beweisen vor allem, dass man hierzulande  auf die Globalisierung der Kultur im wesentlichen  defensiv reagiert.

Seitdem vor einem Jahr die Blase des Wall-Street-Kapitalismus geplatzt ist, hat die Unsicherheit in unseren Ländern darüber, worauf wir politisch und wirtschaftlich zusteuern, einen neuen Höhepunkt erreicht. Auch die Kunst ist in Mitleidenschaft gezogen. Vorzeigeinstitute US-amerikanischer Spitzenkultur wie MOMA oder MET stecken in existenzbedrohlichen Krisen, seit ihnen viele ihrer unverzichtbaren Sponsoren die Unterstützung versagen. Angesichts der hohen Neuverschuldung öffentlicher Haushalte muss auch in Europa mit harten Konsequenzen für die subventionierte und die privatwirtschaftliche Kultur gerechnet werden. Während vor allem der Westen um seine Standards und um seine Rolle in der Welt bangt, vollzieht sich unaufhörlich und immer deutlicher sichtbar der Aufstieg vor allem asiatischer Schwellenländer, insbesondere der von China, aber auch kleinerer Länder wie einiger Golfstaaten. Hat der Westen seine Rolle als globale Kulturmacht ausgespielt?

Die aktuelle Situation lässt zwei Interpretationen zu. Im ersten Falle träumt die abendländische Kultur Fukuyamas Traum von der Universalisierung der westlichen Demokratie weiter, baut einerseits auf eine Fortsetzung der US-amerikanischen Form von Globalisierung und hofft andererseits, von ihr weitgehend verschont zu bleiben. Globalisierung als etwas, das woanders stattfindet. Mit dem Antritt von Barack Obama deutet einiges darauf hin, dass dieses Träumen für einige Zeit anhalten wird. Die Kunst, ihre Produzenten und  Konsumenten gewöhnen sich an die Vorstellung, die einzig geltende Ideologie sei das Geld bzw. der Kampf darum, wer es bekommt, und die Meinungen gehen nur darüber auseinander, ob diese Ökonomisierung der Kultur wünschenswert ist oder nicht. Die Zukunft heißt Filialisierung von global erfolgreichen Kulturbrands, freie Kunstmarktwirtschaft, Handel mit Kreativität und Kreativen. Heißt finale Verwestlichung Chinas und der aufstrebenden islamischen Staaten.

Ausgerechnet in diesen kapitalmächtigen Schwellenländern mehren sich aber die Anzeichen, dass keine Verwestlichung angestrebt wird, sondern der Erwerb von abendländischer Kultur dem Zwecke dienen soll, sich im internationalen Wettbewerb gegen den Westen besser zu behaupten. Imitation wird am Golf oder in Beijing als Schwäche empfunden, wenn sie nicht letztendlich nur ein Übergangsstadium darstellt auf dem Wege, dem Westen auch kulturell Paroli zu bieten. In gewissem Sinne sind die Importe westlicher Kultur nach Abu Dhabi, Shanghai oder Singapur Ausdruck neuer Souveränität der Regierungen dieser Städte. Ihre Maxime: Vom Westen lernen, heißt (über ihn) Siegen lernen. Länder wie China oder die Vereinigten Arabischen Emirate werden in nichtwestlichen Teilen der Welt (vor allem Asiens und Afrikas) heute als Vorbilder für den Aufstand der Unterdrückten gesehen. Das Sadiyat-Island-Projekt von Abu Dhabi (mit Filialen des Louvre, der Guggenheim und der Einbindung fast aller bedeutenden Museen weltweit) ist aus Sicht der Auftraggeber nicht Ausdruck von Kolonialismus, sondern von Emanzipation.

Daher lässt sich die Kulturentwicklung eher im Zeichen von Huntingtons “Clash of Civilizations” beschreiben. Vor allem seine These, dass die Weltpolitik des 21. Jahrhunderts nicht von Auseinandersetzungen politischer, ideologischer oder wirtschaftlicher Natur, sondern von Konflikten zwischen Angehörigen unterschiedlicher Kulturkreise bestimmt sein werde, wird nicht nur durch den Charakter der aktuellen Kulturtransfers nach Asien untermauert. Der Politologe Mark Leonard berichtet in seinem Buch „Was denkt China“, chinesische Wissenschaftler hätten beobachtet, dass Soft Power (Joseph Nye) die eigentliche Stärke des Westens ausmache: Diese Nationen besäßen die höchsten kulturellen und ethischen Standards, weshalb sie internationale Institutionen beherrschten und andere Länder nur zuließen, sofern sie sich diesen Standards anschlößen. In der Globalisierung, zitiert Leonard einen Beijinger Intellektuellen, ginge es „nicht mehr um Land, Ressourcen oder Märkte, sondern um die Formulierung von Regeln und die Setzung von Konventionen“.

China wolle sich am globalen Wettbewerb um Soft Power beteiligen und habe aus diesem Grunde die Kulturhegemonialmacht USA studiert. Wieso ist Amerika attraktiv für den Rest der Welt? Das Ergebnis: Die Freiheitsstatue, die Bill of Rights, Coca-Cola, McDonalds, CNN und Hollywood seien „effektivere Botschafter als sämtliche Beamten des Aussenministeriums“. Die Allgegenwart amerikanischer Unternehmen, die Reichweite ihrer Nachrichtenagenturen, die Zahl von Auslandsstudenten an amerikanischen Universitäten etc. hätten dazu beigetragen, dass internationale politische und Wirtschaftsorganisationen meist den amerikanische Weg zur Erledigung ihrer Aufgaben eingeschlagen hätten.

Mit dem Aufstieg Chinas und Asiens (auch des Mittleren Ostens) ändert sich die bis eben unangefochtene Rolle der USA. „News Week“ hat vor wenigen Wochen den Niedergang Amerikas als Heimat der Innovation untersucht und ist zu dem Schluss gekommen, dass vor allem die Zerstörung Europas im 2. Weltkrieg, die Immigration vieler Forscher, Künstler und Intellektuellen vor und nach 1945 (insbesondere aus Deutschland, später aus der Sowjetunion, Japan und China) sowie eine beispiellose staatliche Unterstützung aller innovativen Bereiche über fünf Jahrzehnte bis 1989 Amerika zum Land des Fortschritts gemacht haben. Inzwischen gibt es kein Geld mehr, und viele einst in den USA erfolgreiche Forscher und Intellektuelle (vor allem aus China) kehren zurück. Ein Beweis dafür, dass der Kalte Krieg ein einzigartiges Stimulus für Kreativität gewesen ist, übrigens nicht nur für die USA, sondern auch für Westeuropa und die alte Bundesrepublik.

Im 21. Jahrhundert stehen drei unterschiedlich weit voneinander entfernte Systeme von Soft Power (Kulturkreisen) zueinander in Konkurrenz: die USA (freie Marktwirtschaft), Europa (soziale Marktwirtschaft) und China (im Verein mit Alliierten, zu denen auch Indien, Russland und z.B. erfolgreiche islamische Staaten gehören könnten). Während die USA absteigen, steigt China auf. Daraus ergeben sich bei uns Fragen wie: Was kommt nach der Amerikanisierungswelle Europas seit spätestens 1945? Kann und soll Europa, kann Deutschland, mit bezug auf seine Kultur und deren Austausch mit anderen Kulturen, sich aus diesem Wettbewerb der Systeme heraushalten? Oder ist umgekehrt der europäische Begriff von öffentlicher Kultur und Aufklärung, Meinungsfreiheit und Gleichheit globalisierbar?

Denn er ist alles andere als global akzeptiert. Selbst in Ländern des Westens gilt er nicht mehr überall. Sollte nicht gerade Deutschland – das „Land der Ideen“ und des ubiquitären Wirtschaftens – für ihn einstehen? Berlin mag eine Stadt der internationalen Künstler und Künste sein, der Kulturbetrieb genießt weiterhin seine Splendid Isolation. Ob es gefällt oder nicht: Aller Hinwendung zum Aktuellen und Zeitgemäßen zum Trotz, die allgemeine internationale Rezeption nimmt Deutschland weder als einen Standort exzeptionellen Kulturerbes, noch als Zentrum dynamischer urbaner Kreativität wahr. Das mag unberechtigt sein. Der Grund dafür liegt aber nicht nur im Elend unserer Geschichte. Er erklärt sich auch nicht allein durch den Förderalismus. Deutschland ist ein introvertiertes Land. Befangen in Innerlichkeit. Nobelpreise und Oscars und Goethe-Institut sollten uns nicht täuschen. Wir interessieren uns viel mehr für die anderen als die anderen für uns. Und wir lesen unsere Literatur vor allem selbst. Unsere Theater, Museen und Opern haben fast ausschließlich regionale Reichweite. Deutschland ist mit sich selbst im Zwiegespräch der Kunst aus Deutschland.

Hinter Sloterdijks Bildschirm spielen sich jedoch – wenn auch weiter entfernt als die documenta, Salzburg oder die Biennale von Venedig – erstaunliche Transformationen im urbanen Zusammenleben von Menschen aus verschiedenen Kulturkreisen ab. Wir sind nicht zur virtuellen Wirklichkeit verdammt, sie ist Teil einer neuen Authentizität, in der das Reale und das Virtuelle, ausgedeutete Tradition und amorphe Zukunft nebeneinander stehen. Der Laptop ist das Logbuch für die neuen Ausfahrten. Im Pearl River Dealta, in Dubai, Shanghai oder Mumbai sind Laboratorien entstanden, in denen sich in den kommenden Jahrzehnten neue Formen kreativen Ausdrucks herausbilden werden.

Deutschland braucht eine Denkfabrik, in der Kunst, auswärtige Politik, Wissenschaft und Wirtschaft gemeinsam eine neue Vermittlung von Soft Power entwickeln. Die Öffnung müsste in beide Richtungen gehen: nach innen und nach außen. Die Alternative ist, entweder in Schönheit vereinsamen oder für das eigene Modell einstehen und es auf seine Globalisierbarkeit prüfen.

Neuen Kommentar hinterlassen