Kolumne 1 – gazeta.ru
Vor knapp zwei Jahren erzaehlte mir der Architekt Rem Koolhaas, zwei Investoren seien in Moskau im Begriff, ein Institut fuer Architektur und Medien zu gruenden. Rem und ich haben jeder seine eigene Sowjeterfahrung und waren neugierig, was diese Investoren so vorhatten. Wir beobachteten, wie ueber Kowloon Millionen Gluehlampen aufflammten und die Stadt in eine gigantische Lichtshow verwandelten, und dachten darueber nach, ob wir bei diesem Moskauer Institut mitmachen sollten. Was haeltst Du davon?, fragte Rem.
Ich mochte die Idee, obwohl ich die letzten Jahre vor allem in Dubai, Muscat, Beijing und Hong Kong gearbeitet hatte und Moskau in meinem Denken nicht besonders vorgekommen war. Gut, ich sprach immer noch einigermassen Russisch, kannte das Land von frueher. Aber wie gut kannte ich es wirklich? Vermutlich war eine paradoxe Ahnung der Hauptimpuls, weshalb ich an jenem Abend in Hong Kong Rem Koolhaas versprach, ich wuerde in Moskau dabei sein: Du kehrst in ein Land zurueck, das es nicht mehr gibt, und kommst in einer vertrauten Stadt an, die du nicht kennst.
Begonnen hatte es am 1. August 1979. Ich draengte mich mit einem Rucksack auf dem Ruecken dem Ausgang des Belorusski Woksal entgegen. Draussen wartete ein Bus. Zwei Tage Zugfahrt in den Knochen, stand ich zum ersten Mal auf dem von der Hitze geblaehten Asphalt Moskaus und schnueffelte den noch unvertrauten Geruch des sowjetischen Benzins in der Luft. Vor vier Wochen hatte ich in der DDR mein Abitur gemacht. In den naechsten fuenf Jahren sollte ich in diesem Land hier Quantenchemie studieren.
Die Stadt, in der meine Universitaet lag, hiess Woronesh. Auf der Karte der Sowjetunion im Atlas meines Vaters war Woronesh mit einem winzigen Kreis in einer immensen gruenen Flaeche eingezeichnet. Ein Mann trat an mich heran. Er wollte offenkundig wissen, wie spaet es ist. In den letzten acht Jahren hatte ich eine Menge Russisch gelernt, zum Beispiel, wie man den Zitronesaeure-Zyklus beschreibt oder den zweiten Satz der Thermodynamik erklaert. Aber wie spaet war es eigentlich? Ich zuckte mit den Schultern. Weiter hatte ich es nach acht Jahren DDR-Unterricht nicht gebracht…
Heute muss ich zugeben, dass Woronesh nicht nur meine Alma Mater war. Woronesh war meine Lebensschule. Hier gab es fuer einen kleinen ostdeutschen Jungen wie mich eine Menge zu erleben. Woronesh, man mag es kaum glauben, war mein Tor zur Welt. Die Studenten kamen ja nicht nur aus dem damaligen kommunistischen Weltsystem, sondern auch aus Quebec, Padua oder Goeteborg. Auf den Korridoren des Wohnheims vermischten sich die Stimmen von Bob Marley, Wladimir Wyssotski und Johnny Rotton. In Woronesh habe ich einige meine treuesten Freunde gefunden, sie kamen aus Oesterreich, Mauritius und Moskau. In Woronesh bin ich von meinen DDR-Kollegen fuer die Stasi beschnueffelt worden. Habe ich mich in eine Afrikanerin verliebt. Kaviar geschmuggelt. Unerlaubte Reisen hinter den Ural und in den Kaukasus unternommen und in der DDR verbotene Buecher aus der Stadt-Bibliothek ausgeliehen. Da war diese wilde Fremde, der (ungreifbar nahe) Krieg mit Afghanistan, die Veteranen nachts an Lagerfeuern im Stadtpark, mit Orden an der Brust, oft mit Verstuemmelungen, johlend und mit leergetrunkenen Wodkaflaschen fuchtelnd, bis die Einsatzwagen kamen. Da waren naessende Hautekzeme, die Angst vor der Stasi und davor, dass bei fuenfundzwanzig Grad Kaelte die Heizung wieder ausfallen koenne.
Als ich zurueckkam ins DDR-Berlin, war die DDR bereits in einem sklerotischen Zustand und sagte mir nichts. Kaum begann bei unserem „Grossen Bruder“ die Perestroika, verbot Honecker sogar sowjetische Zeitschriften. 1989 kehrte ich zurueck. Nach Moskau. Als Journalist fuer die sowjetdeutsche Zeitung „Neues Leben“.
Moskau hatte viel zu bieten: Parties, Konzerte, Ausstellungen, wueste, endlose Gespraeche wie in einem Fellini-Film. Und wieder gab es eine Menge zu lernen. Diesmal ueber meine eigenen Landsleute. Diese Landsleute kamen aber aus Alma-Ata und Doerfern im Fergana-Tal: Maenner um die Siebzig, mit rauhen Gesichtern und rauhen Haenden. Sie sprachen ein seltsames Deutsch, eher an Schiller als an Honecker erinnernd. Friedrich Krueger aus Dsershinsk(!) zum Beispiel. Der Mann war an der Wolga geboren und hatte als Kind seinen Geschwistern beim Sterben zugesehen, waehrend der Hungersnoete von 1932. 1941 ging es dann auf Stalins Befehl ins sibirische Arbeitslager. Ja, es gab fuer mich eine Menge zu lernen…
Beinahe haette ich den Mauerfall in Berlin verpasst. Und kaum war die Welt auch nach Westen offen, kehrte ich meiner Lebensschule den Ruecken. Fuer zwanzig Jahre. Bis ich mit Rem in Hong Kong zum ersten Mal ueber das Strelka Institut sprach.
Seitdem bin ich wahrscheinlich um die siebzig Tage in Russland gewesen. Auch in Woronesh. Einiges hat sich geaendert, aber nicht allzu viel. Fuer einen Durchreisenden wie mich nicht auszumachen, ob zum Besseren oder Schlechteren. Ich stand ploetzlich auf einer Theaterbuehne und sollte wieder Russisch reden. Ich sagte, frueher haette man fuenf Jahre studieren muessen, um ausgezeichnet zu werden, jetzt kriege man hier sofort eine Urkunde. Der Gouverneur ueberreichte mir eines dieser unvermeidlichen, nach wie vor gusseisernen Erinnerungsgeschenke, dazu aber einen gerahmten Brief: meine eigene handschriftliche Studien-Bewerbung von 1979. Woronesh hatte mich nicht vergessen…
Vor allem bin ich jetzt wieder viel in Moskau. Man kann wahrscheinlich alles Moegliche ueber die Stadt sagen: Sie sei dekadent, reich, arm, der Verkehr eine Katastrophe, Putin gut oder schlecht fuer das Land, der Wodka neuerdings im Bolshoi-Theater verboten, Kottedsh eine seltsame Wortschopefung, kluge Leute spraechen inzwischen nicht mehr von „sodershanye“, sondern „kontent“, selbst dann, wenn eigentlich gar kein „kontent“ zu sehen waere… In mancherlei Hinsicht koennte man denken, Moskau sei eine normale Stadt geworden.
Aber noch muss man sich um den Sonderstatus von Moskau keine Sorgen machen. Zwar geht die Passabfertigung in Sheremetyevo inzwischen schneller als in New York, aber wenn man nach 25 Jahren mal wieder die Lomonossow-Universitaet besucht und sich mangels Propusk an die wachhabende Genossin Milizionaerin wendet, darf man sich nicht wundern, nach vertrautem sowjetischen Vorbild rausgeschmissen zu werden. Es wimmelt von Restaurants, in denen ein Glas Pinot Grigio soviel kostet, wie in Rom eine ganze Flasche, aber in manchen Hinterhoefen entdeckt man dann, dass die guten alten кафе-стекляшкa mit ihren с сосисками и пельменями noch nicht ausgedient haben.
Sogar die Regierung sorgt dafuer, dass sich Klischees ueber die „verrueckten Russen“ nicht abnutzen. Bisher war nur bekannt, dass man hierzulande die Nacht gern zum Tage macht. Mit der neuen Winterzeit ist jetzt immerhin ein Versuch gemacht worden, auch den Tag zur Nacht zu machen.
Ja, Moskau ist anders. Wo sonst summen Museumswaerterinnen Opernarien vor sich hin, wenn nicht im Polytechnischen Museum dieser Stadt? Wo duerften Metro-Architekten die Hymne auf einen Staatschef unter Denkmalschutz stellen, dem Millionen Opfer zur Last gelegt werden? Wo wird so oeffentlich ueber Beschraenkungen der Meinungsfreiheit gestritten?
Auch das Strelka Institut, das mich eingeladen hat, unterscheidet sich von Hochschulen oder Think Tanks, die ich andernorts kenne. Eine Ein-Jahr-Uni, um herauszufinden, wie man eine Stadt lebenswerter machen koennte, ist ungewoehnlich. Natuerlich geht sowas nur mit Studenten, die aufgeweckt sind. Manche sind so alt wie ich als Diplomquantenchemiker in Woronesh. Sie gehoeren zu einer Generation, die ein anderes Russland kennt als ich. Vermutlich geben sie sich nicht der Illusion hin, als Designer oder Politologen demnaechst im Westen grosse Karriere zu machen. Sie verfolgen eher eine – wie sie selbst wissen – naive Idee: Moskau zu einer besseren Stadt zu machen.
Es sind diese Idee und ihre Naivitaet, die mich interessieren und hierher zurueckgebracht haben. Gute Gruende, dieser Stadt gegenueber skeptisch zu sein, gibt es immer. Im Augenblick ist meine Neugier aber staerker als alle guten Gruende. Moskau wird derzeit anders. Ich bin gespannt, wie.
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